Selbst im besten Menschen gibt es immer auch das Böse, zumindest als Möglichkeit, und selbst im bösesten Menschen versteckt sich das eine oder andere Gute, das manchmal zum Vorschein kommt.
Selbst im besten Menschen gibt es immer auch das Böse, zumindest als Möglichkeit, und selbst im bösesten Menschen versteckt sich das eine oder andere Gute, das manchmal zum Vorschein kommt.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 23. Oktober 2022.
„Wir sind ein bisschen Zöllner, weil wir Sünder sind, und ein bisschen Pharisäer, weil wir anmaßend und selbstgerecht sind.“ So deutet Papst Franziskus das heutige Evangelium. Hat er Recht? Trifft er damit genau das, was Jesus mit seinem Gleichnis sagen will? Der Pharisäer sagt genau das Gegenteil: „Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner dort.“ Der fromme Pharisäer grenzt sich deutlich von den „anderen Menschen“ ab. Wie bekannt kommt mir das vor! Ehrlich gesagt, trotz aller guten Vorsätze und allen redlichen Bemühens gelingt es mir nicht, ganz darauf zu verzichten, mich mit anderen zu vergleichen.
Warum ist das so? Steckt doch in mir ein wenig der Pharisäer, von dem Jesus spricht? Er erzählt dieses Gleichnis Menschen, „die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt waren und die anderen verachteten“. Gehöre ich zu denen, die sich für gerecht halten? Gibt es in meinem Herzen auch so etwas wie Verachtung anderer Menschen? Jesus stellt uns allen diese unerbittlichen Fragen. Hier meldet sich ein heftiger Einwand. Darf ich nicht (ein wenig) stolz sein auf mein Leben? Wir sollen doch Gott danken für das, was in unserem Leben gelingt. Der Doktortitel, den ich in Paris erworben habe für eine Doktorarbeit, die ich auf Französisch geschrieben habe, darf ich darauf nicht stolz sein und dafür Gott danken?
Macht das Christentum alles madig, was gut gelingt? Die doch recht strenge christliche Moral verlangt von uns allen, dass wir nicht lügen, stehlen, fremdgehen. Und das ist gut so. Soll es ganz gleichgültig sein, was jeder von uns anstellt? Egal, ob ich andere betrüge, zu meinem Vorteil von anderen das Ihre an mich reiße? Der Pharisäer, der im Tempel betet, bemüht sich redlich, ein anständiger Mensch zu sein, ganz anders als der Zöllner, der sein Geld damit macht, dass er von anderen viel zu hohe Steuern erpresst. Der Pharisäer wird mit seinem frommen Leben nie den Wohlstand erreichen, den der Zöllner sich auf Kosten der Anderen erworben hat. Was wirft also Jesus dem Pharisäer vor?
Der entscheidende Punkt ist die Verachtung, mit der der Pharisäer über „die anderen Menschen“ urteilt. Mir kommt da das Schlusskapitel des dreibändigen, monumentalen Werkes von Alexander Solschenizyn (1918-2008) „Archipel Gulag“ in den Sinn. Solschenizyn hat die Welt der sowjetischen Lager von innen kennengelernt, ihre Grauen und Unmenschlichkeiten. Er hat alle ihm erreichbaren Informationen zum eigenen Erleben dazu gesammelt und beschrieben. Am Ende stellt er sich die Frage: Warum bin ich auf der Seite der Opfer gelandet und nicht auf der der Täter? Er hätte allen Grund gehabt, die „Anderen“ zu verachten, ja zu hassen. Warum ist es ihm gelungen, dieser so verständlichen Reaktion zu entkommen? Er hat sich Rechenschaft darüber gegeben, dass sein Weg durch viele kleine Schritte, durch gute Einflüsse, durch manche Fügungen, die wie Zufälle aussehen, ihn dahin gebracht haben, auf der guten Seite zu stehen zu kommen. Sein Leben hätte auch ganz anders verlaufen können. Selbst die moralische Entscheidung, nicht für Stalins Geheimdienst zu arbeiten, sah er nicht nur als sein mutiges Verdienst an, sondern auch als Frucht des Vorbilds, das er zum Beispiel an seiner gläubigen Großmutter hatte. So kommt er zum Schluss: Die Grenze zwischen Gut und Böse läuft mitten durch unser Herz.
Wir sind zu beidem fähig und sollen das auch von den anderen Menschen denken, denn selbst im besten Menschen gibt es immer auch das Böse, zumindest als Möglichkeit, und selbst im bösesten Menschen versteckt sich das eine oder andere Gute, das manchmal zum Vorschein kommt. So denke ich, dass Papst Franziskus Recht hat: In jedem von uns steckt sowohl der stolze Pharisäer wie auch der reuige Zöllner.
Lukas 18,9-14
Einigen, die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt waren und die anderen verachteten, erzählte Jesus dieses Gleichnis: Zwei Männer gingen zum Tempel hinauf, um zu beten; der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stellte sich hin und sprach bei sich dieses Gebet: Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner dort. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den zehnten Teil meines ganzen Einkommens. Der Zöllner aber blieb ganz hinten stehen und wollte nicht einmal seine Augen zum Himmel erheben, sondern schlug sich an die Brust und betete: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt nach Hause hinab, der andere nicht. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden.