Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 13. November 2022
Endzeitstimmung herrscht zurzeit. Wie immer in Krisenzeiten blühen die Spekulationen über das Ende der Welt. So war es zur Zeit Jesu. So ist es auch heute. Hat Jesus selber dazu beigetragen? Im Zentrum seines Wirkens und Redens stand das nahe Kommen des Reiches Gottes. Damit verbunden war immer auch die Ankündigung, dass diese Welt vergeht. Wann wird das geschehen? Steht es unmittelbar bevor? Im heutigen Evangelium scheint Jesus den Zeitpunkt hinauszuzögern: „Das Ende kommt noch nicht sofort.“ Seither sind 2.000 Jahre vergangen. Warum ist das Ende bis heute nicht gekommen? Hat Jesus sich selber in seinen Erwartungen geirrt? Sicher ist, dass die ersten Generationen der Christen eine baldige Wiederkunft Christi und damit das Ende der Welt erhofft haben: „Komm, Herr Jesus! Komm bald!“ – so war ihr sehnsuchtsvoller Ruf, wenn sie zum Gebet versammelt waren.
Ist es möglich, in alle die damaligen und heutigen Endzeitvorstellungen ein wenig Ordnung und Übersicht zu bringen? Wie die Jünger Jesu wüsste auch ich gerne: „Meister, wann wird das geschehen und was sind die Zeichen, dass dies geschehen soll?“
Der erste Rat, den Jesus gibt, ist heute noch gültig: „Gebt Acht, dass man euch nicht irreführt.“ Jesus warnt vor den selbsternannten „Endzeitpropheten“. In Zeiten des Internet haben sie Hochkonjunktur. Kurz und bündig sagt Jesus: „Lauft ihnen nicht nach!“
Sein zweiter Rat ist sehr nüchtern: Alles Irdische ist vergänglich! Die Leute bewundern die Pracht des Tempels in Jerusalem. Doch selbst er wird einmal untergehen. „Kein Stein wird auf dem anderen bleiben.“ Vierzig Jahre später, im Jahr 70, wurde er fast vollständig von den Römern zerstört. Nur die „Klagemauer“ blieb von ihm übrig. Ich kann es mir zwar nicht vorstellen, aber einmal wird auch der Stephansdom vergehen. Möge er für Jahrhunderte erhalten bleiben!
Jesus nennt noch andere Vorboten der Endzeit: Kriege und Unruhen, Machtkämpfe der Völker und Reiche gegeneinander, Naturkatastrophen, Seuchen und Hungersnöte, ja sogar kosmische Zeichen am Himmel. Nun kann man einwenden: All das hat es immer schon gegeben und trotzdem besteht die Welt weiter und lebt die Menschheit nach wie vor. Derzeit werden freilich Bedrohungen deutlich, die es in dieser Form noch nie in der Geschichte gegeben hat: die Gefahr eines Atomkriegs! Die Zahl der in den Waffenlagern wartenden Atomwaffen reicht aus, um mehrmals die ganze Weltbevölkerung zu vernichten. Deshalb ist das Drohen mit Atomschlägen eine erschreckende Steigerung der Gefahr für uns alle. Der Präsident der Vereinigten Staaten sprach bereits von einem möglichen Armaggedon, dem biblischen Wort für die letzte Schlacht zwischen Gut und Böse, nach der das Ende der Welt kommt.
Wie hilft Jesus, mit all dem umzugehen? „Lasst euch nicht erschrecken“, sagt er klar und deutlich. Doch ebenso klar erinnert er uns daran, dass Bedrängnisse und Not uns nicht erspart bleiben. Ich darf nun schon 77 Jahre in Frieden leben. Meine Eltern und Großeltern haben unvergleichlich schlimmere Zeiten erlebt. Sie haben sie tapfer bestanden. Jesu Wort gilt auch für unsere Zukunft: „Wenn ihr standhaft bleibt, werden ihr das Leben gewinnen.“
Lukas 21,5-19
Als einige darüber sprachen, dass der Tempel mit schön bearbeiteten Steinen und Weihegeschenken geschmückt sei, sagte Jesus: Es werden Tage kommen, an denen von allem, was ihr hier seht, kein Stein auf dem andern bleibt, der nicht niedergerissen wird.
Sie fragten ihn: Meister, wann wird das geschehen und was ist das Zeichen, dass dies geschehen soll? Er antwortete: Gebt Acht, dass man euch nicht irreführt! Denn viele werden unter meinem Namen auftreten und sagen: Ich bin es! und: Die Zeit ist da. - Lauft ihnen nicht nach! Wenn ihr von Kriegen und Unruhen hört, lasst euch nicht erschrecken! Denn das muss als Erstes geschehen; aber das Ende kommt noch nicht sofort. Dann sagte er zu ihnen: Volk wird sich gegen Volk und Reich gegen Reich erheben. Es wird gewaltige Erdbeben und an vielen Orten Seuchen und Hungersnöte geben; schreckliche Dinge werden geschehen und am Himmel wird man gewaltige Zeichen sehen. Aber bevor das alles geschieht, wird man Hand an euch legen und euch verfolgen. Man wird euch den Synagogen und den Gefängnissen ausliefern, vor Könige und Statthalter bringen um meines Namens willen. Dann werdet ihr Zeugnis ablegen können. Nehmt euch also zu Herzen, nicht schon im Voraus für eure Verteidigung zu sorgen; denn ich werde euch die Worte und die Weisheit eingeben, sodass alle eure Gegner nicht dagegen ankommen und nichts dagegen sagen können. Sogar eure Eltern und Geschwister, eure Verwandten und Freunde werden euch ausliefern und manche von euch wird man töten. Und ihr werdet um meines Namens willen von allen gehasst werden. Und doch wird euch kein Haar gekrümmt werden. Wenn ihr standhaft bleibt, werdet ihr das Leben gewinnen.