Wir alle haben einen „Webfehler“ in unserem Leben: die kaum zu überwindende Ichbezogenheit, den Egoismus, der uns ein Leben lang zu schaffen macht. Diese „Erbsünde“ hat Maria nie gehabt.
Wir alle haben einen „Webfehler“ in unserem Leben: die kaum zu überwindende Ichbezogenheit, den Egoismus, der uns ein Leben lang zu schaffen macht. Diese „Erbsünde“ hat Maria nie gehabt.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 8. Dezember 2022
Ich nehme am Stephansplatz ein Taxi. Der Fahrer erkennt mich. Gleich beginnt ein lebhaftes Gespräch. Er ist Moslem. Er sagt mir klar: Jesus ist ein Prophet, aber nicht der Sohn Gottes. Denn Gott kann keinen Sohn haben. Er ist ja nicht ein Mensch. Mein Versuch, ihm die christliche Sicht auf Jesus darzulegen, gelingt nicht so recht. Doch dann kommt er von sich aus auf die Mutter Jesu zu sprechen, auf Maria. Seine Stimme wird weich. Fast liebevoll spricht er über sie, dass sie gut sei und rein. Ich werde dieses Taxigespräch nie vergessen.
Wie kommt es, dass Maria so offensichtlich die Herzen vieler Menschen anspricht, auch unter den Muslimen? Ich staune immer wieder neu über diese in aller Welt zu beobachtende Tatsache. Was zieht Millionen Menschen an, Marienwallfahrtsorte zu besuchen? Ich gestehe, dass ich es selber so erlebe. Seit einigen Jahren ist es mir ein fester Brauch geworden, das Neue Jahr mit einer Messe in Mariazell zu beginnen. Es drängt mich dazu, das Jahr Maria anzuvertrauen. Ist das eine Art Aberglauben? Ein Schutzbedürfnis in den Unsicherheiten des Lebens? Doch dann sage ich mir: Das kann nicht eine Einbildung sein, wenn so viele Menschen ein besonderes Vertrauen zu dieser Frau empfinden. Dahinter müssen wirkliche, gelebte Erfahrungen stecken.
Ich glaube, dieses von so vielen Menschen gespürte Vertrauen zu Maria hat mit dem heutigen Fest zu tun. Sein offizieller Titel klingt reichlich kompliziert. Der 8. Dezember ist das „Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria“. Abgekürzt steht es in den meisten Kalendern: „Maria Empfängnis“. Viele missverstehen diesen Festtitel und meinen, es gehe um die Empfängnis Jesu in Maria. Sie glauben, „unbefleckt“ sei diese Empfängnis, weil nach christlicher Lehre Maria die Mutter Jesu ohne Geschlechtsakt geworden sei, sie ihn vom Heiligen Geist, also von Gott empfangen habe. In Wirklichkeit geht es heute um die ganz natürliche Zeugung und Empfängnis Marias durch ihre Eltern Joachim und Anna. Deshalb wird ihr Geburtstag neun Monate später, am 8. September gefeiert.
Das Besondere an der Empfängnis Marias, die heute gefeiert wird, liegt darin, dass sie „ohne Erbsünde“ empfangen wurde. Das klingt alles recht kompliziert, ist aber gerade der Grund, warum so viele Menschen ganz unkompliziert und vertrauensvoll zu Maria Zuflucht nehmen und ihren Schutz suchen. Wir alle haben einen „Webfehler“ in unserem Leben: die kaum zu überwindende Ichbezogenheit, den Egoismus, der uns ein Leben lang zu schaffen macht. Diese „Erbsünde“ hat Maria nie gehabt. Denn Gott hat sie dazu bestimmt, die Mutter seines Sohnes zu werden. Dazu hat sie ohne Wenn und Aber Ja gesagt. Und mit derselben Haltung sagt sie Ja zu allen Menschenkindern, ausnahmslos zu allen! Deshalb fühlen sich so viele Menschen von ihr bedingungslos angenommen und geliebt.