Johannes hat eine gewaltige Schau: Wir Menschen sind eine große Familie, haben einen Ursprung, ein gemeinsames Ziel.Wir alle sind Brüder und Schwestern. Weihnachten heißt, dass das ewige Wort unser Bruder geworden ist, und wir seine Geschwister.
Johannes hat eine gewaltige Schau: Wir Menschen sind eine große Familie, haben einen Ursprung, ein gemeinsames Ziel.Wir alle sind Brüder und Schwestern. Weihnachten heißt, dass das ewige Wort unser Bruder geworden ist, und wir seine Geschwister.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 25. Dezember 2022
Seit vielen Jahren feiere ich die Christmette mit der Caritasgemeinde, mit ihrem Pfarrer Thomas, ihrem Pastoralassistenten Christian und mit vielen Menschen, die selber die Erfahrung gemacht haben, die Josef und Maria in der Heiligen Nacht der Geburt Jesu machen mussten: dass in der Herberge kein Platz für sie war. Sie wissen, was es heißt, kein Obdach zu haben. Besonders berührt es mich, wenn bei der Messe dann die Namen aller verlesen werden, die im vergangenen Jahr in den Einrichtungen der Caritas verstorben sind. Hinter jedem Namen steht ein Schicksal. Keiner ist anonym. In dieser Heiligen Nacht spüren wir Geborgenheit, die sonst so oft fehlt, und den Trost, der vom Kind in der Krippe ausgeht.
Doch dann kommt der Christtag. Ich feiere das Weihnachtshochamt im Dom. Alles ist festlich, die Liturgie, die Gewänder, die prachtvolle Musik, und dazu das Evangelium mit seiner erhabenen Sprache. Jedes Jahr erlebe ich den Kontrast zwischen der Heiligen Nacht und dem Christtag als eine Spannung und zugleich als eine überraschende Harmonie. Ich will versuchen, das kurz zu beschreiben.
Johannes, dem wir das heutige Evangelium verdanken, leuchtet in das Geheimnis der Weihnacht. Er versucht, soweit es Worte fassen können, zu sagen, wer eigentlich das Kind in der Krippe ist, das Maria geboren und in Windeln gewickelt hat: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott.“ Gott war nie alleine. Immer war das Wort bei ihm, ewig wie er, Gott wie er. Johannes hat bei allem, was er von dem Wort sagt, im Sinn, von wem er da eigentlich spricht. Die Mitte des feierlichen Textes ist auch der Grund, warum er zu Weihnachten gelesen wird: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ Er spricht von Jesus, vom Kind, das in Bethlehem geboren und das in Jerusalem als 33-Jähriger am Kreuz gestorben ist. Er nennt ihn, den er gekannt und geliebt hat, den, der „im Anfang bei Gott war“.
Ich versuche mir vorzustellen, wie Johannes das in seinem Herzen zusammengebracht hat: Jesus, mit dem er auf den staubigen Straßen von Galiläa unterwegs war, ist der, „durch den alles geworden ist“. Nicht nur er hatte mit Jesus Verbindung. Alle Menschen haben eine Beziehung zu ihm, zum Wort: „In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen.“ Ich versuche das ganz ernst zu nehmen. Er war „das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet.“ In jedem Menschen gibt es diese verborgene Lichtquelle, die uns allen den Weg leuchtet.
Johannes hat eine gewaltige Schau: Wir Menschen sind eine große Familie, haben einen Ursprung, ein gemeinsames Ziel. Papst Franziskus wird nicht müde, diese große Wahrheit in Erinnerung zu rufen: Wir alle sind Brüder und Schwestern. Weihnachten heißt, dass das ewige Wort unser Bruder geworden ist, und wir seine Geschwister.
Doch bleibt Johannes nüchtern am Boden. Er weiß, wie es Jesus ergangen ist, wie viel Widerstand er erleben musste: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ Nicht nur in der Herberge war kein Platz für ihn, sondern auch in unseren Herzen: „Die Welt erkannte ihn nicht.“ Er war das Licht, aber „die Finsternis hat es nicht erfasst“. Weihnachten ist deshalb jedes Jahr die Frage an mein Herz: Er ist Menschen geworden und hat unter uns gewohnt. Aber habe ich ihn aufgenommen? Denn erst dann wird es für mich wirklich Weihnachten.