Um zu glauben genügt nicht nur Tradition. Es braucht die ganz persönliche Erfahrung. Jeder Glaubensweg ist anders, aber alle haben eines gemeinsam: die Begegnung mit der Wirklichkeit der „anderen Welt“ Gottes.
Um zu glauben genügt nicht nur Tradition. Es braucht die ganz persönliche Erfahrung. Jeder Glaubensweg ist anders, aber alle haben eines gemeinsam: die Begegnung mit der Wirklichkeit der „anderen Welt“ Gottes.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 16. April 2023
Sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Dieses Wort der Ermahnung macht mich sehr nachdenklich. Jesus sagt es acht Tage nach Ostern, also heute, zu einem seiner Apostel, den man gerne den „ungläubigen Thomas“ nennt. Was hat ihm diese Schelte Jesu eingebracht? Seine Kollegen, die Apostel, waren vor einer Woche ängstlich hinter verschlossenen Türen beisammen, als Jesus plötzlich unter ihnen da war. Große Freude: Jesus lebt! Thomas, der diese Freude nicht erlebt hat, reagiert sehr menschlich, ganz vernünftig: Wenn ich ihn nicht echt berühre, seine Wundmale betaste, kann ich nicht glauben, dass er lebt!
Was braucht es zum Glauben? Muss man sehen, was man glauben soll? Wenn ich etwas sehe, brauche ich nicht zu glauben. Dann weiß ich. Heißt also glauben nichts wissen? Aber warum glaubt Thomas den anderen Kollegen nicht, die Jesus wirklich gesehen haben? Ich glaube doch vieles, was ich nicht selber gesehen habe. Ich vertraue, wenn andere mir sagen, dass sie es gesehen haben. Der Apostel Johannes hat Jesus gesehen und bezeugt, dass er wirklich auferstanden ist. Deshalb hat er ja das alles in seinem Evangelium aufgeschrieben, „damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen“. Ist es freilich heute, fast 2000 Jahre später, noch sinnvoll, auf Grund einer so alten Geschichte an Christus zu glauben?
Wie steht es um den Glauben heute, bei uns in Österreich? Die Zahlen stimmen einen nachdenklich. Vor 60 Jahren waren fast 90 Prozent der Menschen in unserem Land katholisch. Heute sind es nur mehr 55 Prozent. Vor 60 Jahren war der Anteil der Personen ohne religiöses Bekenntnis minimal (3,8 Prozent). Heute liegt er bei 22,4 Prozent. In Wien sind die Zahlen noch viel deutlicher. Der Anteil der Katholiken ist schon geringer als der Anteil der Konfessionslosen (32 Prozent zu 34 Prozent). Steigend ist aber auch die Zahl der Andersgläubigen. Die orthodoxen Christen sind österreichweit etwa 500.000, die Muslime bei 700.000. Wird Österreich in Zukunft ungläubig oder andersgläubig? Sind alle, die einer Religion angehören, auch wirklich gläubig? Sind alle Konfessionslosen deshalb schon ungläubig, weil sie sich nicht zu einer der anerkannten Kirchen und Religionen bekennen? Kann der „ungläubige Thomas“ uns in dieser Frage weiterhelfen?
Jesus sagt zu Thomas, nachdem dieser ihn sehen und berühren durfte: „Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Was heißt „glauben“? Wer ist gläubig, wer ungläubig? Es gibt Menschen, die sich selber als ungläubig, andere, die sich als gläubig bezeichnen. Und es gibt die, die im Laufe ihres Lebens „zum Glauben finden“, gläubig werden, aber auch die, die von sich sagen, sie hätten den Glauben verloren, den sie einmal hatten.
Glauben ist also etwas, das wachsen oder abnehmen kann. Wie hat sich die Corona-Pandemie auf den Glauben ausgewirkt? Die Mitfeier des sonntäglichen Gottesdienstes hat noch mehr abgenommen. Deutlich gewachsen ist dagegen die Teilnahme über die Medien. Über eine Million Menschen nehmen jeden Sonntag über Radio und Fernsehen an einem Gottesdienst teil.
Eines ist für mich sicher: Um zu glauben genügt nicht nur Tradition. Es braucht die ganz persönliche Erfahrung. Jeder Glaubensweg ist anders, aber alle haben eines gemeinsam: die Begegnung mit der Wirklichkeit der „anderen Welt“ Gottes. Nur so kann jemand dann wie Thomas glauben und bekennen: „Mein Herr und mein Gott!“
Johannes 20,19-31
Am Abend dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen. Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nachdem er das gesagt hatte,
hauchte er sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! Denen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; denen ihr sie behaltet, sind sie behalten. Thomas, der Dídymus genannt wurde, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel
und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht. Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder drinnen versammelt und Thomas war dabei. Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben. Noch viele andere Zeichen hat Jesus vor den Augen seiner Jünger getan, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind. Diese aber sind aufgeschrieben,
damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen.