Gedanken zum Evangelium von Kardinal Christoph Schönborn am 21. 5. 2023
Gebet ist das Thema des heutigen Evangeliums. Im Angesicht des bevorstehenden Todes betet Jesus. Wie beten, wenn es um den letzten Ernst des Lebens geht? Wie überhaupt beten? Wozu beten? Das Gebet Jesu regt mich an, über mein Beten nachzudenken. Seine Jünger sahen ihn oft beten. So kam in ihnen der Wunsch auf, selber besser beten zu lernen. Deshalb bitten sie Jesus: „Lehre uns beten!“ Was hat er ihnen darüber gesagt?
Ich glaube, dass die meisten Menschen beten. Vielleicht nennen sie es nicht „Gebet“, aber so etwas wie eine innere Bewegung hin zu Gott gibt es, so meine ich, in fast jedem Menschenherzen. Gleichzeitig ist da eine andere Erfahrung: Beten fällt (mir) schwer. Ich klage selber und höre Ähnliches von Anderen: Ich kann nicht recht beten! Mir fehlt es an Sammlung, Ruhe, Zeit. Doch wenn ich mir die Zeit nehme, um zur Ruhe zu kommen, still zu werden, innezuhalten, dann spüre ich, wie gut mir das tut. Ich erlebe dann nicht nur meine Not mit dem Gebet. Ich merke auch, wie sehr es mir hilft. Dann ist es mir ein Segen.
Ich glaube, beten ist etwas, das ganz ursprünglich zum Menschen gehört. Wir sind nicht nur zum Essen und Trinken, zum Arbeiten und Schlafen auf der Welt. Die Seele sehnt sich nach mehr. Aber wir geben dieser Sehnsucht zu wenig Raum. Der Alltag hält uns fest im Griff, die Seele kommt meist zu kurz. Trotz aller Hindernisse ist das Gebet etwas Universales. In allen Religionen spielt es eine wesentliche Rolle. Das Gebet ist die Grundform jeder Religion. Mich berührt es immer neu, Menschen beten zu sehen: Juden, die an der Klagemauer in Jerusalem beten; Buddhisten in stiller Meditation; Muslime in der Moschee oder in ihren fünf täglichen Gebeten; die stillen Beter in der Anbetungskapelle des Stephansdomes oder die tausenden Teilnehmer an einer Papstmesse. Vor dem Gebet anderer Menschen, egal welcher Religion, empfinde ich Ehrfurcht. Es ist schlimm, sich über das Beten der Anderen verächtlich oder spöttisch zu äußern. Das Beten muss uns heilig sein. Es ist etwas ganz Persönliches, auch wenn es in Gemeinschaft vollzogen wird.
Im heutigen Evangelium gewährt Jesus Einblick in sein Beten. Ein einziges Wort lässt erahnen, was die Mitte seines Betens ist: „Vater!“ Jesus wendet sich nicht an eine anonyme Macht, von der wir abhängen, die uns lenkt und bestimmt. Er spricht zu einem Du, mit dem er sich ganz verbunden weiß, dem er völlig vertraut, den er ohne Scheu bitten kann, weil er es wagen darf, sich selber als seinen Sohn zu bezeichnen. Diese Verbundenheit ist ihm so wichtig, dass er seine Jünger gelehrt hat, Gott ebenso anzusprechen. Sie sollen beten: „Unser Vater im Himmel!“ Sie sollen zu Gott ein so großes Vertrauen haben wie er selber!
Wie aber vertrauen, wenn dieser Gott so fern scheint, so wenig spürbar ist? Das ist ja die Not des Gebets, dass es so oft ins Leere zu gehen scheint. Wer kann die Gebete zählen, die nie erhört wurden? Jesus selber hat Gott inständig gebeten, dass seine Jünger eins seien. Wurde er nicht erhört? Die Christen sind weit davon entfernt, eins zu sein. Warum erspart Gott, wenn er ein gütiger Vater ist, seinen Kindern nicht das oft so schreckliche Leid? Jesus hat zu Gott gebetet, ihm die Qual des Kreuzes zu ersparen. Doch hat er hinzugefügt: „Nicht mein Wille geschehe, sondern der deine!“ Uns hat er gelehrt, ebenso zu beten: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden“. So zu beten, gerade in der Not, kann zum Segen werden. Beweisen kann ich es nicht. Aber die Erfahrung hat es oft bestätigt.
Johannes 17, 1-11a
In jener Zeit erhob Jesus seine Augen zum Himmel und sprach: Vater, die Stunde ist da. Verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrlicht. Denn du hast ihm Macht über alle Menschen gegeben, damit er allen, die du ihm gegeben hast, ewiges Leben schenkt. Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast. Ich habe dich auf der Erde verherrlicht und das Werk zu Ende geführt, das du mir aufgetragen hast. Vater, verherrliche du mich jetzt bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, bevor die Welt war. Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie gehörten dir, und du hast sie mir gegeben, und sie haben an deinem Wort festgehalten. Sie haben jetzt erkannt, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir ist. Denn die Worte, die du mir gegeben hast, gab ich ihnen, und sie haben sie angenommen. Sie haben wirklich erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie sind zu dem Glauben gekommen, dass du mich gesandt hast. Für sie bitte ich; nicht für die Welt bitte ich, sondern für alle, die du mir gegeben hast; denn sie gehören dir. Alles, was mein ist, ist dein, und was dein ist, ist mein; in ihnen bin ich verherrlicht. Ich bin nicht mehr in der Welt, aber sie sind in der Welt, und ich gehe zu dir.