Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 15. August 2023
Heute, mitten im August, feiern viele Länder mit mehrheitlich katholischer Tradition das Fest Mariä Himmelfahrt als staatlichen Feiertag. Auch Österreich gehört dazu. Vielerorts wird der 15. August der Große Frauentag genannt, im Unterschied zum 8. September, dem Kleinen Frauentag. Was will diese Tradition sagen? Am 8. September wird die Geburt Marias gefeiert, am 15. August das Ende ihres irdischen Weges. Zwischen Geburt und Tod ist unser aller Leben eingespannt. Es beginnt ganz klein, bei der Empfängnis. Diese feiert die Kirche für Maria am 8. Dezember, am Fest Maria Empfängnis, neun Monate vor ihrer Geburt. Der Geburtstag ist für uns alle die jährliche Erinnerung an unseren Lebenseintritt. Wann wir es wieder verlassen, wissen wir nicht. Sicher ist nur, dass wir hier auf Erden keine bleibende Stätte haben. Am Großen Frauentag feiern wir den Übergang Marias in das ewige Leben. Es ist ja etwas ganz Großes, aus dem vergänglichen ins ewige Leben überzugehen. Das Tor dazu ist der Tod, das Sterben. Auch Maria ist durch diese enge Pforte gegangen. Heute feiert die Kirche die Überzeugung, dass das Sterben kein Endpunkt ist, sondern der große Übergang in den Himmel. Maria wurde ganz, als ganzer Mensch, mit Leib und Seele, in den Himmel aufgenommen.
Heute ist der Tod ein Tabu. Er wird verdrängt, abgeschoben, ausgeblendet. Und doch hören wir täglich von so vielen Toten. „Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben“, singt ein altes Kirchenlied. In unserer oft so orientierungslosen Zeit tröstet es mich, dass es im Leben jedes Menschen, ausnahmslos, zwei Fixpunkte gibt: Wir sind alle von einer Frau geboren und wir werden alle sterben. Eigentlich müssten diese beiden Tatsachen genügen, dass wir uns alle als Geschwister sehen und gegenseitig annehmen. Alle die vielen Unterschiede, die es zwischen uns Menschen gibt, werden klein und unbedeutend neben diesen beiden großen Gemeinsamkeiten. Der große Frauentag kann helfen, uns neu auf das große Ziel des Lebens auszurichten: auf den Himmel, die endgültige Heimat.
Meine Mutter pflegte angesichts der vielen Schwierigkeiten des täglichen Lebens zu sagen: „Was ist das im Vergleich zur Ewigkeit!“ Das Fest Mariä Himmelfahrt ist mit einem reichen Brauchtum umgeben: Am bekanntesten und beliebtesten ist die Kräutersegnung. Nach einer alten Überlieferung hätten sich die Apostel nach dem Heimgang Mariens alle um ihr Grab versammelt. Doch statt ihres Leichnams fanden sie den Sarg gefüllt mit duftenden Kräutern und Blumen. Ich finde, das ist ein schönes Bild für die Hoffnung, die das heutige Fest vermittelt. Maria, die Jesus geboren hat, die der Welt so viel Liebe geschenkt hat, konnte nicht im Tod bleiben. Diese große Frau wird nicht umsonst von so vielen Menschen verehrt und geliebt.
Lukas 1,39-56
In jenen Tagen machte sich Maria auf den Weg und eilte in eine Stadt im Bergland von Judäa.
Sie ging in das Haus des Zacharías und begrüßte Elisabet. Und es geschah: Als Elisabet den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leib. Da wurde Elisabet vom Heiligen Geist erfüllt und rief mit lauter Stimme: Gesegnet bist du unter den Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes. Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? Denn siehe, in dem Augenblick, als ich deinen Gruß hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leib. Und selig, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ. Da sagte Maria:
Meine Seele preist die Größe des Herrn und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. Denn der Mächtige hat Großes an mir getan und sein Name ist heilig. Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten. Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen. Er nimmt sich seines Knechtes Israel an
und denkt an sein Erbarmen, das er unsern Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig. Und Maria blieb etwa drei Monate bei ihr; dann kehrte sie nach Hause zurück.