Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 20. August 2023
Am Judenplatz in der Wiener Innenstadt steht eines der ältesten Häuser Wiens. Es stammt aus dem Spätmittelalter. Das Haus „Zum großen Jordan“ ziert ein spätgotisches Relief, das die Taufe Jesu darstellt. Darunter befindet sich eine lateinische Inschrift, deren Text zutiefst erschüttert. Er bezieht sich auf den Feuertod vieler Juden in der Judenverfolgung von 1421. Die „Hebräerhunde“ seien durch die Flammen wie durch eine Taufe gereinigt worden. Es gab immer wieder Überlegungen, diese Tafel zu entfernen. Stattdessen ließ ich am Judenplatz 1998 eine neue Inschrift anbringen, die die Mitschuld der Christen an diesen schrecklichen Ereignissen benennt und dafür um Verzeihung bittet.
Warum erwähne ich das alles? Weil ein Satz im heutigen Evangelium mich schockiert. Jesus sagt zu der kanaanäischen, also heidnischen Frau, die ihn flehentlich um Hilfe für ihre von einem Dämon geplagten Tochter bittet: „Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und es den kleinen Hunden vorzuwerfen.“ Sagt hier Jesus nicht unmissverständlich, dass er die Heiden mit den Hunden vergleicht, die Mitglieder seines eigenen, des jüdischen Volkes aber als Kinder, also als allein der Hilfe Gottes würdig? Heute könnte diese Frau gegen Jesus einen Ehrenbeleidigungsprozess anstrengen. Warum dieses schwer verständliche Verhalten Jesu?
Macht Jesus hier dasselbe, nur umgekehrt, was Christen jahrhundertelang den Juden angetan haben? Die beschämenden Zeugnisse existieren ja bis heute: das mittelalterliche Relief der „Judensau“ der Pfarrkirche der Lutherstadt Wittenberg, oder eben die Inschrift am Wiener Judenplatz, um nur zwei Beispiele zu nennen: Sieht Jesus wirklich die Heiden als unwürdige Hunde, er, der die Liebe zu allen Menschen gepredigt hat?
Blicken wir genauer auf die Szene, die sich im heidnischen Gebiet von Tyrus und Sidon abspielte, im heutigen Libanon. Jesus hatte sich dorthin zurückgezogen. Er wollte wohl unerkannt bleiben, wird aber schnell erkannt. Sein Ruf als Heiler hatte sich weit herumgesprochen, besonders auch seine exorzistische Tätigkeit. Menschen können lästig, aufdringlich sein. Diese Frau ist es. Sie tut es nicht für sich, sondern für ihr leidendes Kind. Lässt Jesus sich nicht von ihrer Not berühren? Die Bitten seiner Jünger weist er ab: Sein Heilungsdienst gilt nur „den verlorenen Schafen des Hauses Israel“. Ihnen gilt sein Auftrag, nicht den Heiden. Die Frau hört das, bittet dennoch weiter. Wirklich, es ist wie die Jünger sagen: „Sie schreit hinter uns her!“ In dieser Situation versteht man, dass sie Jesus bitten: Schick sie weg! Da fällt dieses Wort Jesu, das mich schockiert: Das Brot ist für die Kinder, nicht für die Hunde! Doch dann geschieht das völlig Überraschende. Die Frau geht ganz auf Jesu Wort ein. Sie gibt ihm Recht: Es stimmt, das Brot ist zuerst für die Kinder. Aber die Brotkrumen, die vom Tisch ihrer Herren fallen, dürfen die Hunde essen! Der heilige Johannes Chrysostomus (344-407) sagt über diese Frau: „Jesus hat sie einen Hund genannt, und sie setzt hinzu, was ein Hund tut, so als wollte sie sagen: Und wenn ich ein Hund bin, so gehöre ich doch zu dir. Du nennst mich einen Hund, also füttere mich, so wie du deinen Hund fütterst; ich kann den Tisch meines Herrn nicht verlassen!“ Selten hat Jesus so großes Lob ausgesprochen wie in diesem Moment: „Frau, dein Glaube ist groß!“ Hat Jesus selber für sich etwas von ihr gelernt? Und was lerne ich von ihr?
Matthäus 15,21-28
In jener Zeit zog sich Jesus in das Gebiet von Tyrus und Sidon zurück. Und siehe, eine kanaanäische Frau aus jener Gegend kam zu ihm und rief: Hab Erbarmen mit mir, Herr, du Sohn Davids! Meine Tochter wird von einem Dämon gequält. Jesus aber gab ihr keine Antwort. Da traten seine Jünger zu ihm und baten: Schick sie fort, denn sie schreit hinter uns her! Er antwortete: Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt. Doch sie kam, fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, hilf mir! Er erwiderte: Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den kleinen Hunden vorzuwerfen. Da entgegnete sie: Ja, Herr! Aber selbst die kleinen Hunde essen von den Brotkrumen, die vom Tisch ihrer Herren fallen. Darauf antwortete ihr Jesus: Frau, dein Glaube ist groß. Es soll dir geschehen, wie du willst. Und von dieser Stunde an war ihre Tochter geheilt.