Ermutigen wir uns gegenseitig, einander die Fehler ehrlich zu sagen? Jesus wünscht sich, dass unter uns diese Einmütigkeit herrscht. Wo sie gelebt wird, da verspricht er, mitten unter uns zu sein.
Ermutigen wir uns gegenseitig, einander die Fehler ehrlich zu sagen? Jesus wünscht sich, dass unter uns diese Einmütigkeit herrscht. Wo sie gelebt wird, da verspricht er, mitten unter uns zu sein.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 10. September 2023
Jesus spricht eine der schwierigsten Fragen des Alltags offen an: Wie umgehen mit den Fehlern der Anderen? Schweigen? Ertragen? Oder sie doch ansprechen, zurechtweisen? Lieber schlucken und sich ducken oder den Mut haben, sie auszusprechen? Aber wer gibt mir das Recht, mich einzumischen? Muss ich nicht vor der eigenen Türe kehren? Das Wort Jesu ist in zwei Formen überliefert: „Wenn dein Bruder gegen dich sündigt, dann geh und weise ihn unter vier Augen zurecht!“ Die andere Form ist allgemeiner: „Wenn dein Bruder sündigt …“ Im ersten Fall geht es um das Fehlverhalten des anderen mir gegenüber, im zweiten Fall um Verfehlungen allgemeiner Art. In beiden Fällen gilt die Regel, die Jesus gibt: Rede zuerst unter vier Augen! Sehr oft ist es anders: Wir reden über die Fehler der anderen, ob sie nur mich betreffen oder ob sie allgemeiner Art sind, meist zuerst nicht unter vier Augen, sondern klagen vor anderen über diese Person. Es ist offensichtlich leichter, sich über die Fehler des Nächsten vor den anderen zu beklagen als den Betreffenden selber anzusprechen.
Ein Beispiel, das mir unvergesslich ist. Ein Priester, den ich sehr geschätzt habe, hatte ein offensichtliches Alkoholproblem. In der Gemeinde war es bekannt, es wurde darüber immer mehr geredet, doch kaum jemand traute sich, den Pfarrer persönlich darauf anzusprechen. Ich habe mir ein Herz genommen und ihm gesagt, er könne nur Pfarrer bleiben, wenn er eine Entziehungskur macht. Da er seinen Dienst als Pfarrer sehr liebte, hat er zugestimmt. Und dann geschah das Erstaunlich: Aus der Kur schrieb er einen Brief an seine Pfarre folgenden Inhalts: Ihr wisst alle um mein Problem mit dem Alkohol. Wenn ich jetzt zurückkomme, müsst ihr auf mich aufpassen. Ihr seid meine Therapeuten. Die Gemeinde empfing ihn mit großer Freude, als er von der Kur heimkam. Niemand musste mehr hinter seinem Rücken über sein Problem tratschen. Er selber hatte es öffentlich gemacht. Für ihn und die Gemeinde folgten gute Jahre bis zu seinem Tod. Mir sagte er mehrmals, wie glücklich und dankbar er ist.
Fehler offen ansprechen! Aber alles hängt davon ab, wie wir es tun! Mit Mut, aber nicht in Wut! Mit dem Wissen um die eigenen Fehler, also ohne Überheblichkeit! Den richtigen Zeitpunkt finden, also mit Geduld! Und das Schwierigste bei der Zurechtweisung: unterscheiden zwischen dem, was wir am anderen ertragen müssen und dem, was wir ihm sagen sollen. Bei der Goldenen Hochzeit meiner Tante habe ich die beiden gefragt, was sie nach fünfzig Jahren Ehe als das Wichtigste für ihr Miteinander ansehen. Meine Tante nannte ohne zu zögern ein Wort des Apostels Paulus: „Einer trage des anderen Last!“ Wenn wir einander die Fehler sagen sollen, dann dürfen wir nie vergessen, dass wir dem anderen nicht nur Hilfe, sondern auch Last sind: „Ertragt einander!“ Doch wie weit soll das gehen? Wer hat den Mut, dem Chef die unangenehmen Dinge zu sagen? Wie oft müssen Mitarbeiter die Fehler der Leitung ertragen, weil ein offenes, ehrliches Wort der Kritik unerwünscht ist oder gar bestraft wird! Zeigen wir einander Dankbarkeit, wenn uns jemand auf Fehler hinweist? Ermutigen wir uns gegenseitig, einander die Fehler ehrlich zu sagen? Jesus wünscht sich, dass unter uns diese Einmütigkeit herrscht. Wo sie gelebt wird, da verspricht er, mitten unter uns zu sein.
Matthäus 18,15-20
In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Wenn dein Bruder gegen dich sündigt, dann geh und weise ihn unter vier Augen zurecht! Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen. Hört er aber nicht auf dich, dann nimm einen oder zwei mit dir, damit die ganze Sache durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen entschieden werde. Hört er auch auf sie nicht, dann sag es der Gemeinde! Hört er aber auch auf die Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder ein Zöllner. Amen, ich sage euch: Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein. Weiter sage ich euch: Was auch immer zwei von euch auf Erden einmütig erbitten, werden sie von meinem himmlischen Vater erhalten. Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.