Wenn es stimmt, dass sie zwei Seiten unserer Seele zeigen, dann muss ich sehr behutsam sein im Urteil über andere. Denn in jedem Nein-Sager steckt die Möglichkeit der Umkehr. Und: Halte dich nicht für besser, bloß weil du brav Ja sagst.
Wenn es stimmt, dass sie zwei Seiten unserer Seele zeigen, dann muss ich sehr behutsam sein im Urteil über andere. Denn in jedem Nein-Sager steckt die Möglichkeit der Umkehr. Und: Halte dich nicht für besser, bloß weil du brav Ja sagst.
Gedanken zum Evangelium am 1.Oktober 2023 von Kardinal Christoph Schönborn
Ich kenne die Situation, die Jesus anspricht, nur allzu gut. „Ein Mann hatte zwei Söhne“. Dem einen sagt er liebevoll: „Mein Kind, geh und arbeite heute im Weinberg!“ Die Antwort ist trotzig und unhöflich: „Ich will nicht.“ So wendet sich der Vater an den zweiten mit derselben Bitte. Dieser antwortet höflich und unterwürfig: „Ja, Herr“, geht aber nicht. Den ersten reut inzwischen sein harsches Nein. Er geht und macht die Arbeit.
Jesus erzählt dieses so kurze und klare Gleichnis in einer ganz bestimmten Situation. Er ist in Jerusalem, kurz vor dem letzten Osterfest, das auch das Ende seines Lebens wird. Der Konflikt mit den Autoritäten spitzt sich zu: Werden sie Jesus als den von Gott gesandten Messias erkennen und anerkennen? Mit dem Gleichnis sagt Jesus „den Hohepriestern und den Ältesten des Volkes“: Die Zöllner und Dirnen sind Gott näher als ihr, die ihr euch für gerecht haltet! Die Sünder waren die Nein-Sager, die nicht nach Gottes Willen gelebt haben. Sie haben sich aber bekehrt und sind gläubig geworden. Ihr behauptet, fromm zu sein und Gottes Gebote zu befolgen, seid aber in Wiklichkeit wie der zweite Sohn, der fromme Worte spricht, aber keine Taten folgen lässt.
Man kann diesem kleinen Gleichnis Jesu die Zähne ziehen und es entschärfen, indem man in den beiden Söhnen die Juden und die Heiden sieht. So wurde es oft gedeutet. Die Juden haben in Worten Ja gesagt, haben aber Jesus nicht angenommen. Die Heiden wollten zuerst nichts von Jesus wissen, sind dann aber gläubige Christen geworden. Diese Deutung hat viel zur antijüdischen Haltung der Christen durch viele Jahrhunderte beigetragen, oft mit schlimmen Folgen für die Juden. Sie geht aber völlig an dem vorbei, was Jesus mit diesem Gleichnis sagt.
Es beginnt erst zu sprechen, wenn ich es in mein persönliches Leben hereinlasse und mich frage, welcher der beiden Söhne meinem eigenen Verhalten entspricht. Ich werde sehr bald feststellen, dass ich selber beides in mir trage, den Ja-Sager, der nicht tut, was er verspricht, und den Nein-Sager, den sein Nein reut und der dann doch tut, wozu er keine Lust hatte. In einfachsten Worten spricht Jesus mit diesem Gleichnis die bittere und beschämende Wahrheit aus, dass zwischen meinem wirklichen Verhalten und meinen schönen Worten eine Kluft besteht, die ich mein Leben lang nie ganz überbrücken kann. Gerade als „Frommer“ muss ich mir immer wieder sagen und sagen lassen: „Du predigst Wasser und trinkst Wein“.
Muss ich mein Leben lang immer wieder bereuen, etwas Gutes nicht getan zu haben? Ja, es wird immer wieder vorkommen. Ich muss mich aber nicht damit abfinden. Ich kann mein Nein wieder gut machen, vielleicht nicht das, was ich zu tun verabsäumt habe, aber etwas anderes Gutes. Jesus gibt mit diesem kleinen Gleichnis ein großes Zeichen der Hoffnung: Es ist nie zu spät, umzukeheren, zu bereuen und Gutes zu tun. Und eine weitere, entscheidende Einsicht schenkt das Gleichnis von den beiden Söhnen: Wenn es stimmt, dass sie zwei Seiten unserer Seele zeigen, dann muss ich sehr behutsam sein im Urteil über andere. Denn in jedem Nein-Sager steckt die Möglichkeit der Umkehr. Und: Halte dich nicht für besser, bloß weil du brav Ja sagst. Denn nur die Taten zählen, nicht die Worte.
Aus dem heiligen Evangelium nach Matthäus.
In jener Zeit sprach Jesus zu den Hohepriestern und den Ältesten des Volkes: Was meint ihr? Ein Mann hatte zwei Söhne. Er ging zum ersten und sagte: Mein Kind, geh und arbeite heute im Weinberg! Er antwortete: Ich will nicht. Später aber reute es ihn und er ging hinaus. Da wandte er sich an den zweiten und sagte zu ihm dasselbe. Dieser antwortete: Ja, Herr – und ging nicht hin. Wer von den beiden hat den Willen seines Vaters erfüllt? Sie antworteten: Der erste. Da sagte Jesus zu ihnen: Amen, ich sage euch: Die Zöllner und die Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr. Denn Johannes ist zu euch gekommen auf dem Weg der Gerechtigkeit und ihr habt ihm nicht geglaubt; aber die Zöllner und die Dirnen haben ihm geglaubt. Ihr habt es gesehen und doch habt ihr nicht bereut und ihm nicht geglaubt.