Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom
29. Oktober 2023
Einer der beliebtesten Bibeltexte für Hochzeiten ist das Loblied auf die Liebe im ersten Brief des Apostels Paulus an seine Gemeinde in Korinth. Dort heißt es: „Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke … Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte, und wenn ich meinen Leib opferte, um mich zu rühmen, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts.“
Paulus gibt hier ein Echo auf das, was Jesus im heutigen Evangelium sagt. Ein Schriftgelehrter will ihm eine Falle stellen. In der Bibel stehen 613 Gebote und Verbote. Sind sie alle gleich wichtig? Die Antwort Jesu ist kurz und bündig: Das eine Doppelgebot, Gott und den Nächsten zu lieben, fasst alles zusammen, was im Gesetz und bei den Propheten steht. Ist das nicht zu einfach? Brauche ich nur zu lieben, um alles erfüllt zu haben, was Gott geboten hat? Ein berühmtes Wort des heiligen Augustinus (354-430) scheint das zu bestätigen: „Liebe, und dann tue, was du willst.“ Was aber heißt Liebe? Was gebietet die Liebe? Was verbietet sie? Kann sie überhaupt geboten werden? Muss sie nicht ganz frei geschenkt werden? Denn zur Liebe kann niemand gezwungen werden.
Wir können eine Gegenprobe machen und ein anderes Gebot an die erste Stelle setzen, etwa: „Lebe nur für dich selber! Sei immer auf deinen Vorteil aus! Nimm dich am wichtigsten!“ Dazu braucht es kein Gebot, weil wir ohnehin schon von uns aus zu einer solchen Haltung geneigt sind. Die Schwerkraft unserer Schwächen zieht uns von selber herunter. Liebe heißt ständig gegen die angeborene Neigung zum Egoismus anzukämpfen. Paulus lässt in seinem Lob der Liebe keinen Zweifel daran, dass es nichts Anspruchsvolleres gibt als die Liebe: „Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf.“
Am Hochzeitstag hört sich das wunderschön an. Hält es auch dem jahrelangen Alltag stand? Es ist intensive Arbeit, das alles in die Praxis umzusetzen. Umso schöner, wenn bei der goldenen Hochzeit derselbe Text mit Freude wieder gelesen werden kann. Was ist das Geheimnis einer Liebe, die frisch bleibt? Ich liebe den Ausdruck, mit dem die Italiener einander sagen, dass sie sich lieben: „Ti voglio bene!“ Wörtlich übersetzt: „Ich will dir gut!“ Lieben heißt, dem anderen wohlgesonnen zu sein. Wohlwollen ist das Herz jeder Liebe. Gilt das auch mir selber gegenüber?
Jesus sagt, ich soll meinen Nächsten lieben wie mich selber. Ich finde, das ist oft das Schwierigste: sich selber annehmen, ja lieben. Tiefe Wunden, oft schon seit der Kindheit, beschädigen das Selbstvertrauen. Vergleiche mit anderen führen dann dazu, an uns selber nichts Liebenswertes zu finden. Das kann bis zum Selbsthass gehen. Nur die Erfahrung, geliebt zu sein, kann hier Heilung bringen. Die tiefste Heilung ist das Vertrauen, dass Gott bedingungslos zu mir Ja sagt, weil er mich liebt. Aus dieser Quelle kommt die Fähigkeit zu lieben, Gott, sich selber und den Nächsten.
Matthäus 22,34-40
In jener Zeit, als die Pharisäer hörten, dass Jesus die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, kamen sie am selben Ort zusammen. Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn versuchen und fragte ihn: Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste? Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite:
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.