Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 3. Dezember 2023
Eine häufige Krankheit bei Kindern und Jugendlichen wird mit den vier Buchstaben ADHD bezeichnet. Dahinter stehen die vier englischen Worte Attention Deficit Hyperactivity Disorder. Auf Deutsch: Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). „Hinter ADHS verbirgt sich eine der häufigsten psychischen Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen“, so bei Google zu lesen. Die Betroffenen können sich nicht genügend konzentrieren, können kaum stillsitzen, tun sich schwer, Aufgaben zu Ende zu führen. Kopfloses Handeln gilt als Kennzeichen dieser Störung, die über die Jugend hinaus andauern kann. Ich bin hier sicher kein Experte, beobachte aber in unserer heutigen Welt und auch bei mir selber, dass ADHS wie eine typische Zeitkrankheit aussieht. In unserer hektischen Atmosphäre ist es, so mein Eindruck, immer schwerer, sich zu konzentrieren, aufmerksam bei der Sache zu bleiben, sich nicht in (zu) viele Aktivitäten zu verlieren, innere Ruhe und Aufmerksamkeit zu bewahren.
Heute beginnt der Advent. Die Advent- und Weihnachtsmärkte haben längst geöffnet. Die angeblich „stillste Zeit des Jahres“ wirft ihren Schatten voraus. Es beginnt in Wirklichkeit die oft für viele stressigste Zeit des Jahres: die Vorweihnachtszeit. Da wirkt das Wort Jesu wie ein einsamer Ruf in der Wüste: „Was ich euch sage, das sage ich allen: Seid wachsam!“
Das wäre der Sinn des Advents: eine Zeit gesammelter Aufmerksamkeit! Am Beginn des Advents steht ein Gleichnis Jesu: das Gleichnis vom Türhüter. Wir können es auch das Gleichnis vom Nachtportier nennen. Während die meisten Menschen schlafen, hat er die Aufgabe zu wachen. Er weiß ja nicht, wann jemand kommt, dem er öffnen muss. Man soll ihn, wenn er plötzlich gefordert ist, „nicht schlafend antreffen“.
Im Türhüter, im Nachtportier, sollen wir uns alle wiedererkennen. Denn uns allen ist eines gemeinsam: „Ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist.“ Deshalb die Aufforderung: „Gebt Acht und bleibt wach!“ Doch worauf sollen wir Acht geben? Ich denke, es geht vor allem um ganz einfache Dinge. Aufmerksamkeit erfordert ein Wachsein für das, was uns umgibt, für die Erfordernisse der Situation und der Menschen um uns. Ich bewundere Menschen, die die Gabe haben, in schwierigen Momenten richtig zu reagieren, nicht den Verstand zu verlieren, nicht aufgeregt herumzuwerken, sondern vielmehr überlegt zu handeln. Solche Menschen haben den Sinn für ein waches Eingehen auf unerwartete Ereignisse durch eine entsprechende Einstellung und Haltung.
Die heutige Unruhe hängt bei vielen von uns am übermäßigen Gebrauch von Handy und Internet, auch wenn sie aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken sind. Es gibt verschiedene Techniken, durch die man leichter zu innerer Ruhe und Aufmerksamkeit kommen kann. Sie mögen hilfreich sein. Doch christliche Spiritualität meint etwas anderes: Wichtiger als alle äußeren Maßnahmen, um zur Ruhe zu kommen, ist die innere Ausrichtung des Herzens. Das Wichtigste am Dienst des Türstehers, des Portiers, ist das Warten auf den „Hausherrn“. Wir sind im Advent. Es geht um das Kommen des Kindes im Stall von Bethlehem, um das Weihnachtsfest, die Geburt Jesu. Wir kennen das Datum des Weihnachtsfestes. Wir wissen aber nicht die Stunde, wann „der Hausherr“ zu uns persönlich kommt. Denn jedem schlägt einmal die Stunde. Sie soll uns mit wachem Herzen antreffen. Es ist die wichtigste Stunde des Lebens.
Markus 13,33-37
In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Gebt Acht und bleibt wach! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist. Es ist wie mit einem Mann, der sein Haus verließ, um auf Reisen zu gehen: Er übertrug die Vollmacht seinen Knechten, jedem eine bestimmte Aufgabe; dem Türhüter befahl er, wachsam zu sein. Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, wann der Hausherr kommt, ob am Abend oder um Mitternacht, ob beim Hahnenschrei oder erst am Morgen. Er soll euch, wenn er plötzlich kommt, nicht schlafend antreffen. Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Seid wachsam!