Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 31. Dezember 2023
Zum Jahreswechsel in dieser krisenreichen Zeit bewegt mich ein Thema mehr als viele andere: der Segen, aber auch die Not der Familie, der Urzelle der Menschheit. Heuer fällt der letzte Tag des Jahres, Silvester, auf einen Sonntag. Der Sonntag nach Weihnachten wird in der Kirche als Fest der Heiligen Familie gefeiert. Unter allen Festen des Jahres ist Weihnachten das Familienfest schlechthin. Selten kommen Freude und Leid der Familien so deutlich zum Vorschein wie zu Weihnachten. Meine Erinnerungen an Weihnachten sind gemischt.
Als Kind war es das freudige Warten auf das Christkind und die (bescheidenen) Weihnachtsgeschenke. Als Jugendlicher spürte ich, wie es in der Ehe der Eltern kriselte, bis es schließlich zu Trennung und Scheidung kam. Später, auf dem Weg zum Priesterberuf, waren es die großen Gottesdienste der Mette und des Christtages, die mein Weihnachten prägten. Seit ich Bischof bin, ist es jedes Jahr die Feier der Heiligen Nacht gemeinsam mit der Caritasgemeinde, einer mir besonders lieben Familie eigener Art, mit vielen Armutsbetroffenen.
Heute also feiert die Kirche die Heilige Familie, Josef und Maria und das neugeborene Kind. Wir kennen die manchmal etwas kitschigen Bilder mit Josef, dem Zimmermann, mit Jesus als Kind, das schon in der Werkstatt mithilft, und Maria im Hintergrund. Eine typische Kleinfamilie? Wie sah die Familie Jesu wirklich aus?
Die frommen Bilder täuschen. Jesus wuchs in einer Großfamilie auf. Der Evangelist Markus berichtet von einem Besuch Jesu in Nazareth, seiner Heimat. Jesus ist schon überall bekannt wegen seiner Wunder. Am Sabbat geht er wie gewohnt in die Synagoge zum Gottesdienst. Die Leute staunen über seine Weisheit: „Woher hat er das alles?“ Sie kennen ihn seit Kinderzeit, sind mit ihm aufgewachsen. „Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns? Und sie nahmen Anstoß an ihm.“ War Jesus der Jüngste unter vielen Geschwistern? Nach einer alten Überlieferung hatte Josef diese Kinder aus einer ersten Ehe. Als Witwer habe er die viel jüngere Maria geheiratet und wurde zum Ziehvater Jesu. Sicher ist, dass Jesus in dieser Großfamilie aufgewachsen ist. Anfangs waren seine Verwandten ganz gegen sein öffentliches Wirken. Sie wollten ihn mit Gewalt in den Familienverband zurückholen. Später sollte Jakobus, der „Herrenbruder“, der Leiter der ersten Christengemeinde in Jerusalem werden. Er starb hochbetagt im Jahr 62, von seinen Gegnern gesteinigt. Der Jakobusbrief in der Bibel stammt von ihm. Ein schönes Zeugnis über seinen Halbbruder Jesus!
An der Schwelle zum Neuen Jahr fügt es sich gut, über die Familie nachzudenken, die Familie Jesu und die eigene. Was hat das vergangene Jahr gebracht? Geburten und Sterbefälle, glückliche Momente und schwere Belastungen, Konflikte und hoffentlich Versöhnungen. Und immer auch das Mitgefühl mit anderen Familien, die es schwer haben. Es genügt, an das Los der vielen, zahllosen Familien zu denken, die durch politische, kriegerische, wirtschaftliche Umstände schwere Zeiten erleben. Soziologische Studien zeigen freilich etwas, was die Erfahrung bestätigt: In Krisenzeiten gibt es kein tragfähigeres Sicherheitsnetz als die Familie, trotz aller Konflikte und Spannungen, die es allzu oft gibt. So hilfreich er ist, der Sozialstaat kann nicht ersetzen, was der Zusammenhalt der Familie bedeutet. Wenn noch der gemeinsame Glaube dazukommt, ist das ein großer Segen für die Familie. Ich durfte es selber erleben. Wir wissen nicht, was das Neue Jahr bringt. Möge die kleine Heilige Familie, Jesus, Maria und Josef, die Hände segnend über uns alle halten!
Lukas 2,16-21.22.39-40
In jener Zeit eilten die Hirten nach Betlehem und fanden Maria und Josef und das Kind, das in der Krippe lag. Als sie es sahen, erzählten sie von dem Wort, das ihnen über dieses Kind gesagt worden war. Und alle, die es hörten, staunten über das, was ihnen von den Hirten erzählt wurde. Maria aber bewahrte alle diese Worte und erwog sie in ihrem Herzen. Die Hirten kehrten zurück, rühmten Gott und priesen ihn für alles, was sie gehört und gesehen hatten, so wie es ihnen gesagt worden war. Als acht Tage vorüber waren und das Kind beschnitten werden sollte, gab man ihm den Namen Jesus, den der Engel genannt hatte, bevor das Kind im Mutterleib empfangen war. Als sich für die Eltern Jesu die Tage der vom Gesetz des Mose vorgeschriebenen Reinigung erfüllt hatten, brachten sie das Kind nach Jerusalem hinauf, um es dem Herrn darzustellen. Als seine Eltern alles getan hatten, was das Gesetz des Herrn vorschreibt, kehrten sie nach Galiläa in ihre Stadt Nazaret zurück. Das Kind wuchs heran und wurde stark, erfüllt mit Weisheit, und Gottes Gnade ruhte auf ihm