Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 21. Jänner 2024
Diese Frage bewegt uns ein Leben lang. Den richtigen Zeitpunkt zu finden ist eine große Kunst. Den falschen Zeitpunkt zu erwischen kann alles scheitern lassen. Wann ist es der passende Moment, etwas anzusprechen? „Zur Unzeit hat Sie g’red’t“, heißt es einmal in einem Theaterstück von Johann Nestroy. Von der richtigen Zeit spricht ein berühmter Text der Bibel. Im Buch Kohelet heißt es im dritten Kapitel (ich zitiere nur einige Verse): „Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, … eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz; … eine Zeit zum Umarmen und eine Zeit, die Umarmung zu lösen; … eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden; … eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden.“
Die Frage ist immer dieselbe: Wann ist es die rechte Zeit für das eine oder das andere? Bei einem Begräbnis zu lachen ist der falsche Zeitpunkt. Den rechten Augenblick zum Frieden-schließen zu verpassen kann tragische Folgen haben. Das richtige Wort im falschen Moment kann genau das Verkehrte sein.
Ganz am Anfang des Markusevangeliums ist von einem einzigartigen Moment die Rede, vom Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu. Zu einem ganz genauen Zeitpunkt beginnt es: „Nachdem Johannes der Täufer ausgeliefert worden war“, das heißt von König Herodes ins Gefängnis geworfen wurde, „ging Jesus nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium.“ Jesus sagt: Jetzt ist die rechte Zeit, denn das Reich Gottes ist nahe! Um diesen Moment nicht zu verpassen, braucht es zweierlei: im Leben eine Kehrtwende machen und an das Evangelium, die gute Botschaft Jesu, glauben.
Wie konkret und praktisch Jesus das gemeint hat, zeigt sich gleich: Er spricht zwei Brüderpaare an und fordert sie auf, sich ihm anzuschließen. Sie tun es und werden seine Gefährten. Für sie war es der richtige Zeitpunkt, alles Gewohnte zu verlassen und sich auf ein völlig neues Abenteuer einzulassen. Nicht immer ist die Situation so klar und deutlich wie damals am See Genesareth. Nicht immer hören wir eine vernehmbare Stimme, die uns einlädt, die richtige Entscheidung zu treffen. Was ist der Wille Gottes in dieser oder jener Herausforderung? Wie die rechte Zeit erkennen?
Aus eigener Erfahrung kenne ich Situationen, die mir klar gesagt und gezeigt haben: Jetzt bist du dran! Du bist gefordert! Du darfst dich nicht entziehen, auch wenn es schwierig ist und dich zu überfordern scheint. Mich berührt es, dass für Jesus dieser Moment gekommen war, als sein Vorläufer Johannes brutal ins Gefängnis geworfen wurde. Es muss für Jesus so etwas wie das Startzeichen gewesen sein, seine Sendung zu beginnen. Doch auch das hat mir die eigene Erfahrung gezeigt: Gerade in solchen Momenten wird uns bewusst, was Jesus gesagt hat: „Das Reich Gottes ist nahe!“ Das wird oft in kleinen, unscheinbaren Situationen deutlich, etwa wenn ich dem inneren Impuls folge: Sag das jetzt! Geh auf diese Person zu! Ich habe nie bereut, einen solchen guten Zeitpunkt ergriffen zu haben. Es hat mir stets leidgetan, wenn ich ihn versäumt habe.
Markus 1,14-20
Nachdem Johannes der Täufer ausgeliefert worden war, ging Jesus nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium! Als Jesus am See von Galiläa entlangging, sah er Simon und Andreas, den Bruder des Simon, die auf dem See ihre Netze auswarfen; sie waren nämlich Fischer. Da sagte er zu ihnen: Kommt her, mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen. Und sogleich ließen sie ihre Netze liegen und folgten ihm nach. Als er ein Stück weiterging, sah er Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und seinen Bruder Johannes; sie waren im Boot und richteten ihre Netze her. Sogleich rief er sie und sie ließen ihren Vater Zebedäus mit seinen Tagelöhnern im Boot zurück und folgten Jesus nach.