Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 18. Februar 2024
Wir Menschen sind weder Engel noch Tiere, beide aber sind unsere nahen Verwandten. Mit den Tieren verbindet uns mehr als wir meist wahrhaben wollen. Die Entschlüsselung des genetischen Codes der Lebewesen hat hier große Überraschungen gebracht. Wer hätte früher gedacht, dass die Maus mit dem Menschen in 99 Prozent ihrer Gene übereinstimmt? Deshalb kann die medizinische Forschung an den Mäusen Krankheiten wie Krebs, Alzheimer oder Parkinson mit bisher nicht möglicher Genauigkeit studieren. So muss unsere nahe Verwandte, die kleine Maus, herhalten, um uns Menschen das hohe Gut der Gesundheit besser zu erhalten.
Nicht nur mit den Mäusen sind wir genetisch verbunden. Mit allem, was lebt, haben wir das Leben gemeinsam. Es ist tief in der pflanzlichen Welt verwurzelt. So habe ich neulich gelesen, dass das menschliche Genom zu 20 Prozent mit dem der Banane identisch ist. Wir sind wirklich ein Teil der Natur, sogar der unbelebten. Wir tragen in uns die Elemente, die sich beim Entstehen des Universums gebildet haben und aus denen die Materie besteht. Mit Pflanzen und Tieren haben wir die Reaktionen gemeinsam, die Instinkte, das Funktionieren des Organismus. Unsere Organe arbeiten, ohne dass wir es ihnen befehlen müssen. Angst, Schrecken, Überlebenswillen teilen wir mit der Tierwelt.
Und die Engel? Ich glaube fest, dass es sie gibt, diese reinen Geistwesen, von denen die Bibel und andere religiöse Überlieferungen sprechen. Unsere geistige Seele verbindet uns mit ihnen. Wir sind an die Materie gebunden, gehen aber nicht in ihr auf. Wille, Verstand, Liebe, Verzeihen, Freiheit, Wahrhaftigkeit, alles, was über unsere Materie und unsere Instinkte hinausgeht, verbindet uns mit den Engeln. Nicht umsonst haben die alten Meister gesagt: Der Mensch ist die Mitte zwischen Tier und Engel. Er gehört zur Erde, aber auch zum Himmel.
So begegnet uns Jesus heute in den knappen Worten über seine vierzig Tage in der Wüste, Vorbild der vierzigtägigen Fastenzeit, die eben begonnen hat: „Er lebte bei den wilden Tieren und die Engel dienten ihm.“ Beides ist erstaunlich. Wer lebt schon gerne in der Wildnis der Wüste, nur unter den wilden Tieren? Wem von uns „dienen die Engel“? Doch wenn wir genauer hinschauen, dann erschließt sich auch für uns ein tiefer Sinn.
Jesus lebt friedlich mit den wilden Tieren zusammen, wir nicht immer! Denn die tierische Seite in uns ist oft gar nicht so friedlich. Zwar ist sie an sich nicht böse. Sie gehört zu uns als Menschen. Es ist nur die Frage, wie wir mit ihr umgehen. Das Wichtigste ist es, sie anzunehmen. Wie alle Tiere haben wir Hunger, Überlebenstrieb, Sexualität. Beim Tier ist das alles durch Instinkte geleitet. Wir Menschen müssen es selber steuern, menschlich gestalten, die triebhaften Kräfte positiv einsetzen. Zorn, Hass, Zügellosigkeit im Essen, in der Geschlechtlichkeit, im Umgang mit den Anderen, macht das „Tier in uns“ zur Gefahr für die anderen und für uns selber.
Die Versuchungen, denen Jesus ausgesetzt war, kamen freilich nicht nur von der tierischen Seite. Sie sind fast noch gefährlicher von dem her, was uns mit den Engeln verbindet: die geistigen Irrwege! Tiere können nicht hochmütig sein, Engel schon. Der Versucher Jesu, Satan, war und ist ein Engel, ein gefallener Engel. Stolz, Einbildung, Neid, Eifersucht sind seelische Laster. Jesus ist der Mensch, in dem beides versöhnt ist, das Tier und der Engel in uns. Darum ist er der Weg zum wahren Menschsein.
Markus 1,12-15
In jener Zeit trieb der Geist Jesus in die Wüste. Jesus blieb vierzig Tage in der Wüste und wurde vom Satan in Versuchung geführt. Er lebte bei den wilden Tieren und die Engel dienten ihm. Nachdem Johannes ausgeliefert worden war, ging Jesus nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe.
Kehrt um und glaubt an das Evangelium!