Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 30. Mai 2024
Seit fast drei Jahrzehnten darf ich am Fronleichnamsfest den „großen Stadtumgang“ leiten. Nach der Messe im Stephansdom formiert sich die lange Prozession durch die Wiener Innenstadt. Die Mitte bildet „der Himmel“, getragen von vier Pfadfindern. Dieser tragbare Baldachin birgt das, worum es am heutigen Fest geht: die „Monstranz“, vom Erzbischof getragen. Doch auch dieses mit Blumen geschmückte, goldene Schaustück ist nicht der eigentliche Mittelpunkt der ganzen Feier. Alle Augen schauen auf die kleine weiße Scheibe, die „Hostie“. Sie wird feierlich durch die Straßen der Stadt getragen, mit Musik, Gesängen, viel Weihrauch und Glockenläuten.
Auch mein Blick richtet sich die meiste Zeit auf das kleine, weiße Stück Brot, das ich mit der Monstranz in Händen halte. Viele Gedanken gehen mir dabei durch Herz und Sinn. Ja, ich glaube seit meiner Jugend, dass hier, in diesem Brot, Jesus selber gegenwärtig ist, dass ich also Jesus durch die Straßen der Innenstadt von Wien trage, wie es in allen Dörfern und Städten unseres Landes geschieht, wenn Fronleichnam gefeiert wird. Ich glaube es, sehen kann ich es nicht. Ich glaube, dass Jesus bis heute das macht, was er damals, vor bald 2000 Jahren, zum ersten Mal beim jüdischen Paschamahl getan hat: „Während des Mahls nahm Jesus das Brot und sprach den Lobpreis, dann brach er das Brot, reichte es ihnen und sagte: Nehmt, das ist mein Leib.“
Dieses Brot ist also sein Leib geworden. Durch die Hostie ist Jesus selber da. Also geht er mit mir, mit uns, durch die Straßen von Wien. Er ist wirklich da, sagt mir der Glaube. Ich versuche, das zu tun, was Jesus unter den Menschen damals getan hat und heute genauso tut: Er segnet sie, denn er ist ein Segen für sie. So zieht die Prozession durch die Straßen, mit allen, die am Umgang teilnehmen. Sie zieht vorbei an den Touristen, die fleißig fotografieren, sie für ein österreichisches Folklore halten; vorbei an den Kaffeehäusern und den „Schanigärten“ der Gastlokale, vorbei an den immer luxuriöseren Markengeschäften der Innenstadt (wo bleiben die guten alten Wiener Geschäfte?): Alle segnet Jesus, keinen schließt er von seinem Segen aus. An den drei Stationen der Prozession darf ich jedes Mal mit der Monstranz alle segnen, die Menschen von fern und nah, die Stadt, das Land. Dann bewegt mich manchmal ein tröstlicher Gedanken: Trage wirklich ich Jesus zu den Menschen? Es ist doch wohl umgekehrt: Er trägt mich, uns, alle, die ganze Welt.
Markus 14,12-16.22-26
Am ersten Tag des Festes der Ungesäuerten Brote, an dem man das Paschalamm zu schlachten pflegte, sagten die Jünger zu Jesus: Wo sollen wir das Paschamahl für dich vorbereiten? Da schickte er zwei seiner Jünger voraus und sagte zu ihnen: Geht in die Stadt; dort wird euch ein Mensch begegnen, der einen Wasserkrug trägt. Folgt ihm, bis er in ein Haus hineingeht; dann sagt zu dem Herrn des Hauses: Der Meister lässt dich fragen: Wo ist der Raum, in dem ich mit meinen Jüngern das Paschalamm essen kann? Und der Hausherr
wird euch einen großen Raum im Obergeschoss zeigen, der schon für das Festmahl hergerichtet und mit Polstern ausgestattet ist. Dort bereitet alles für uns vor! Die Jünger machten sich auf den Weg und kamen in die Stadt. Sie fanden alles so, wie er es ihnen gesagt hatte, und bereiteten das Paschamahl vor. Während des Mahls nahm er das Brot und sprach den Lobpreis; dann brach er das Brot, reichte es ihnen und sagte: Nehmt, das ist mein Leib. Dann nahm er den Kelch, sprach das Dankgebet, gab ihn den Jüngern und sie tranken alle daraus. Und er sagte zu ihnen: Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird. Amen, ich sage euch: Ich werde nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken bis zu dem Tag, an dem ich von Neuem davon trinke im Reich Gottes. Nach dem Lobgesang gingen sie zum Ölberg hinaus.