Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 30. Juni 2024
Ein Satz im heutigen Evangelium hat meine Aufmerksamkeit besonders geweckt: „Das Kind ist nicht gestorben, es schläft nur.“ Verständlich, dass die Leute Jesus deswegen auslachen, denn vor ihnen liegt ein zwölfjähriges Mädchen auf seinem Bett. Es ist offensichtlich tot: Die Menschen klagen und weinen laut. Das überraschende Wort Jesu steht nicht alleine. Als sein Freund Lazarus schwer erkrankte und schließlich starb, sagte Jesus: „Unser Freund Lazarus schläft.“ Seine Jünger verstehen das vom natürlichen Schlaf. Ist der Tod eine Art Schlaf, aus dem wir einmal aufwachen werden? Was meinen wir, wenn wir vom Gestorbensein sprechen? Kinder überraschen uns immer wieder, wenn sie an den Tod denken. Der vierjährige Sohn von Freunden sagte neulich zu seiner Mutter: „Wenn wir alle unter der Erde sein werden, dann werden wir alle zusammen sein.“ Kindliche Vorstellung? Sie ist gar nicht so weit entfernt von dem, was in allen Kulturen und Religionen an Bildern und Mythen über das Jenseits zu finden ist.
Das Wort Jesu hat mich angeregt, über unseren Sprachgebrauch nachzudenken. Wo sind unsere Toten? Am Friedhof! Beim Begräbnis wird dem Verstorbenen meist der Wunsch zugesprochen: „Ruhe in Frieden!“ Die Verstorbenen gelten als die „Entschlafenen“. Die Bestattung kümmert sich um die „Beisetzung“. In der griechischen Mythologie sind Schlaf und Tod zwei Götter, die Brüder sind. Robert Schneider, der regelmäßig in dieser Zeitung zu lesen ist, hat seinem berühmten Roman den Titel gegeben: „Schlafes Bruder“.
Der Tod – Bruder des Schlafes? Wenn der Tod (nur) ein Schlaf ist, dann werden wir wohl alle einmal aus diesem Schlaf aufwachen. Genau das ist die biblische Vorstellung. Von ihr geht auch Jesus aus. Auf die Nachricht, dass Lazarus gestorben ist, sagt Jesus: „Ich gehe, um ihn aufzuwecken.“ Vor dem Bett stehend, auf dem das tote Mädchen liegt, fasst Jesus die Hand des Kindes und sagt (in seiner Muttersprache Aramäisch): „Talita kum!“ Mädchen, steh auf! Das Wunder, das nun geschieht, wird zu Recht „Auferweckung“ einer Toten genannt. Drei Totenerweckungen werden von Jesus berichtet, die beiden ebengenannten und die des Sohnes einer Witwe in Nain.
Durch die ganze Kirchengeschichte hindurch finden wir Berichte von solchen Auferweckungen. Doch was bedeuten sie im Vergleich zu den zahlreichen Todesfällen, die Tag für Tag geschehen? Das Rätsel des Todes ist damit kaum gelöst. Gibt es überhaupt eine Antwort auf die allgegenwärtige, harte, unausweichliche Tatsache des Todes? Im heutigen Sonntagsgottesdienst wird ein Abschnitt aus dem Buch der Weisheit gelesen, in dem klipp und klar steht: „Gott hat den Tod nicht gemacht und hat keine Freude am Untergang der Lebenden. Zum Dasein hat er alles geschaffen.“ Darf ich das so deuten: Gott ist ein Gott des Lebens? Jesus hat es nachdrücklich gesagt: „Er ist nicht der Gott von Toten, sondern von Lebenden.“ Also kann der Tod nicht endgültig sein. Daher das Bild vom Schlaf. Wir nennen die Toten (etwas altertümlich, aber zutreffend) die Entschlafenen. Dass aber Jesus ein Freund des Lebens ist, zeigt seine rührende, ganz praktische Aufmerksamkeit für das Mädchen, das er eben vom Tod auferweckt hat: „Dann sagte er, man solle dem Mädchen etwas zu essen geben.“
Markus 5,21-24.35b-43
In jener Zeit fuhr Jesus im Boot an das andere Ufer des Sees von Galiläa hinüber und eine große Menschenmenge versammelte sich um ihn. Während er noch am See war, kam einer der Synagogenvorsteher namens Jaírus zu ihm. Als er Jesus sah, fiel er ihm zu Füßen und flehte ihn um Hilfe an; er sagte: Meine Tochter liegt im Sterben. Komm und leg ihr die Hände auf, damit sie geheilt wird und am Leben bleibt! Da ging Jesus mit ihm. Viele Menschen folgten ihm und drängten sich um ihn. Unterwegs kamen Leute, die zum Haus des Synagogenvorstehers gehörten, und sagten zu Jairus: Deine Tochter ist gestorben. Warum bemühst du den Meister noch länger? Jesus, der diese Worte gehört hatte, sagte zu dem Synagogenvorsteher: Fürchte dich nicht! Glaube nur! Und er ließ keinen mitkommen außer Petrus, Jakobus und Johannes, den Bruder des Jakobus. Sie gingen zum Haus des Synagogenvorstehers. Als Jesus den Tumult sah und wie sie heftig weinten und klagten, trat er ein und sagte zu ihnen: Warum schreit und weint ihr? Das Kind ist nicht gestorben, es schläft nur. Da lachten sie ihn aus. Er aber warf alle hinaus und nahm den Vater des Kindes und die Mutter und die, die mit ihm waren, und ging in den Raum, in dem das Kind lag. Er fasste das Kind an der Hand und sagte zu ihm: Talíta kum!, das heißt übersetzt: Mädchen, ich sage dir, steh auf! Sofort stand das Mädchen auf und ging umher. Es war zwölf Jahre alt. Die Leute waren ganz fassungslos vor Entsetzen. Doch er schärfte ihnen ein, niemand dürfe etwas davon erfahren; dann sagte er, man solle dem Mädchen etwas zu essen geben.