Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am 20. Oktober 2024
Seltsame Frage! Jesus hat doch alle Menschen geliebt, die Sünder, die Zöllner, die Prostituierten, seine Anhänger, ja sogar seine Feinde. Er hat im heutigen Evangelium ausdrücklich gesagt, er sei gekommen, um zu dienen, allen Menschen, so sehr, dass er „sein Leben hingibt als Lösegeld für viele“. Oder doch nicht für alle, sondern nur „für viele“? Vorsicht: das hebräische Wort für „die vielen“ meint wirklich alle! Also auch für die Politiker?
Bei uns stehen sie unter dem Generalverdacht, eh nur an sich selber und an ihre eigene Macht zu denken. Politiker „erfreuen“ sich keines guten Rufes, und Jesus scheint dieses Vorurteil zu teilen. Seinen Jüngern, die gerade wieder einmal einen Machtstreit untereinander ausfechten, sagt Jesus, ohne viel zu unterscheiden, von den Mächtigen dieser Welt: „Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Großen ihre Macht gegen sie gebrauchen.“ Jesus setzt voraus, dass alle, die ihm zuhören, seinen Worten zustimmen: „Ihr wisst“, dass es so ist! Dahinter stehen schmerzliche Erfahrungen, die auch heute in vielen Ländern der Welt gemacht werden: machtlos zu sein gegen die Mächtigen.
Hat Jesus an den Mächtigen gar kein gutes Haar gelassen? Der Anlass seiner kritischen Worte ist nicht sehr erbaulich. Denn offensichtlich benehmen sich seine eigenen Jünger nicht viel besser als die Herrscher dieser Welt. Auch sie haben ihre Machtspiele, auch wenn sie keine politische Macht haben. Bis heute wird uns Leuten aus dem Klerus vorgeworfen, wir seien nicht besser als die anderen. Nicht nur die Mächtigen dieser Welt gieren nach mehr Macht. Überall gibt es die großen und die kleinen Kämpfe um Einfluss und Macht: in der Familie, am Arbeitsplatz, selbst unter Freunden. Um letztere geht es im heutigen Evangelium. Zwei der zwölf Apostel stehen Jesus besonders nahe. Deshalb bitten sie Jesus, ihnen in seinem kommenden Reich besondere Plätze zu sichern, rechts und links von seinem Thron. Das löst bei den zehn anderen ein typisches Gerangel aus, wie überall in der Welt, wo es um Ehre und Macht geht.
Jesus kennt nur einen Ausweg: „Bei euch soll es nicht so sein!“ Wenigstens unter seinen eigenen Jüngern müsste doch ein anderes Verhalten möglich sein! Für dieses gibt es einen ganz einfachen Schlüssel: dienen! „Wer groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein“. Macht ist Menschen gegeben, um zu dienen. Alles andere ist Machtmissbrauch. Die Eltern haben Macht, nicht um ihre Kinder zu unterdrücken, sondern sie zu schützen und zu fördern. Den Politikern ist Macht anvertraut, damit sie dem guten Zusammenleben dienen. Wo Macht missbraucht wird, leiden immer die Schwächeren. Wie viel Not in aller Welt, weil Macht nicht zu dienen bereit ist! Liebt Jesus die Politiker? Er hat niemanden von seiner Liebe ausgeschlossen. Hart ist er nur dort, wo wir alle in Gefahr sind, unsere Macht nicht als Dienst zu verstehen. Jesus konnte von sich sagen: „Mir ist (von Gott) alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde.“ Ausgeübt hat er sie allein durch seine Hingabe. Wer sein Leben so für andere lebt, hat verstanden, warum Gott uns Menschen Macht anvertraut.
Mk 10, 35–45
In jener Zeit traten Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, zu Jesus und sagten: Meister, wir möchten, dass du uns eine Bitte erfüllst. Er antwortete: Was soll ich für euch tun? Sie sagten zu ihm: Lass in deiner Herrlichkeit einen von uns rechts und den andern links neben dir sitzen! Jesus erwiderte: Ihr wisst nicht, um was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke oder die Taufe auf euch nehmen, mit der ich getauft werde? Sie antworteten: Wir können es. Da sagte Jesus zu ihnen: Ihr werdet den Kelch trinken, den ich trinke, und die Taufe empfangen, mit der ich getauft werde. Doch den Platz zu meiner Rechten und zu meiner Linke habe nicht ich zu vergeben dort werden die sitzen, für die es bestimmt ist. Als die zehn anderen Jünger das hörten wurden sie sehr ärgerlich über Jakobus und Johannes. Da rief Jesus sie zu sich und sagte: Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und ihre Großen ihre Macht gegen sie gebrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.