Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am 27. Oktober 2024
Es ist verständlich, dass ein Blinder diesen Wunsch äußert. Bartimäus hat das Augenlicht verloren. Die Blindheit hat ihn zum Betteln genötigt. Als er hört, dass Jesus in der Nähe ist, sieht er seine Chance gekommen, von ihm das zu erbetteln, was ihm das Wichtigste ist, wichtiger als etwas Geld: „Rabbuni, lieber Meister, ich möchte sehen können.“ Sein Vertrauen, sein Glauben, dass Jesus ihm helfen kann, wird ihm zur Rettung aus der Not der Blindheit.
Wenn wir die rührende Heilungsgeschichte des Bartimäus hören, geht es immer auch darum, sich zu fragen: Will auch ich von meiner Blindheit geheilt werden? Sage ich von Herzen: „Ich möchte sehen können“? Voraussetzung dafür ist mein Erkennen, dass auch ich blind bin oder zumindest meine blinden Flecken habe. Eine Frau schreibt mir: „Ich habe meinen Mann verloren. Er kennt nur mehr seinen Computer. Er sieht mich nicht mehr!“ Ein junger Mann sitzt neben mir im Flugzeug. Vom ersten bis zum letzten Moment des Fluges sieht er nur auf sein Handy. Nach der Landung geht er an mir im Flughafen vorbei. Während des Gehens blickt er nur auf sein Handy. Er ist blind für alle um sich.
In der Synode, die heute in Rom zu Ende geht, habe ich schmerzlich festgestellt: Ich bin immer noch nicht ganz frei von einem gewissen europäischen Gefühl der Überlegenheit gegenüber Menschen aus Afrika. Diese Blindheit hat mich erschreckt. „Rabbuni, ich möchte sehen können!“ Befreie mich von jeder Art tiefsitzender Vorurteile. Ich traue mich, das zu bekennen, obwohl es mir peinlich ist und ich von mir gedacht habe, ich sei längst frei von diesen und anderen “blinden Flecken“. Ich habe die Synode für mich persönlich als ein Geschenk der Heilung erlebt, weil ich so deutlich vor Augen geführt bekam, dass ich von mancher Blindheit befreit werden muss.
Wo bin ich selber blind? Es geht nicht nur um ein äußerliches Wunder, sondern um die Gnade, sehen zu lernen, sehen zu wollen, bereit zu sein, genauer hinzuschauen statt sich mit oberflächlichen (Vor-) Urteilen zufrieden zu geben. Es macht so einen Unterschied, ob ich daherrede über andere, über Dinge, die ich nicht kenne, über Menschen, denen ich nie in die Augen gesehen habe, oder ob ich aus der echten Kenntnis etwas sage. Wie gut tut es festzustellen: Der ist ja gar nicht so, wie man über ihn spricht!
Die alte Weisheit nennt die richtige Reihenfolge: Sehen – Urteilen – Handeln. Unser Urteilen und Handeln erfolgt oft blindlings. Wir fällen Urteile ohne genaues Hinschauen. Dementsprechend verkehrt ist dann unser Handeln. Das große Anliegen von Papst Franziskus mit dem Synodalen Prozess der Kirche war und ist das Zuhören. „Synode“ kommt vom griechischen „synodos“ und bedeutet „gemeinsamer Weg“. Jesus hat das harte Wort über die (religiösen) Verantwortlichen seines Volkes gesagt: „Sie sind blinde Blindenführer. Wenn ein Blinder einen Blinden führt, werden beide in eine Grube fallen.“ Hören und Sehen gehören eng zusammen. Wer aufmerksam zuhört und hinhört, wird auch genauer hinschauen. Ich denke an manche Blinde, denen ich begegnen durfte. Sie sind mir als besonders feinfühlig in Erinnerung. Sie zeigen, wie wahr das bekannte Wort von Antoine de Saint-Exupéry ist: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Jesus hat zu Bartimäus gesagt: „Geh! Dein Glaube hat dich gerettet.“ Woran hat Bartimäus geglaubt? Er hat es laut gerufen: „Jesus, hab Erbarmen mit mir!“ Wir können nur inständig bitten: Heile mich von meiner Blindheit!
Mk 10, 46b–52
In jener Zeit, als Jesus mit seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge Jéricho verließ, saß am Weg ein blinder Bettler, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Sobald er hörte, dass es Jesus von Nazaret war, rief er laut: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir! Viele befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her! Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich. Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu. Und Jesus fragte ihn: Was willst du, dass ich dir tue? Der Blinde antwortete: Rabbúni, ich möchte sehen können. Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dich gerettet. Im gleichen Augenblick konnte er sehen und er folgte Jesus auf seinem Weg nach.