Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am 1. November 2024
Was wir meinen, wenn wir jemanden als „scheinheilig“ bezeichnen, dürfte klar sein: Dieser Mensch will einen Schein erwecken, der nicht der Wirklichkeit entspricht. Er will als heilig gelten, ohne es zu sein. Viele Menschen haben einen „Riecher“ für echt oder unecht. Sie spüren, ob ein Verhalten etwas vortäuscht oder ob es ehrlich ist. Mich beschäftigt dabei eine Frage: Haben wir auch eine klare Vorstellung von dem, was echt „heilig“ bedeutet? Heuchelei stößt ab. Es gibt aber auch das andere: dass uns ein Mensch beeindruckt durch seine Art zu sein. Manchmal kann uns dann das Wort „heilig“ in den Sinn kommen, oder wenigstens, etwas vorsichtiger, „heiligmäßig“. Was ist das, „Heiligkeit“? Heute feiert die Kirche das Fest „Allerheiligen“. Wie kommt jemand in diesen Kreis, in den Ruf der Heiligkeit, gar bis zur ausdrücklichen „Heiligsprechung“ durch die Kirche und dadurch zur Aufnahme in den Heiligenkalender?
Scheinheiligkeit fällt unangenehm auf. Wie merkt man Heiligkeit? Ist sie sympathisch, ansprechend, ist sie eher aufdringlich, mühsam? Bei seiner Abschiedsfeier als Bürgermeister von Wien hat Michael Häupl seine Dankesrede überraschend mit einem Gebet aus dem 17. Jahrhundert beendet, das von einer alten Nonne stammen soll: „O Gott, erhalte mich so liebenswert wie möglich. Ich möchte kein Heiliger sein – mit manchen von ihnen lebt es sich so schwer; aber ein Griesgram ist das Krönungswerk des Teufels.“
Sind Heilige also eher etwas, was man besser nicht werden soll? Oder ist Heiligkeit einfach zu steil, zu unerreichbar für uns gewöhnliche Sterbliche? Einen Heiligen habe ich selber kennenlernen dürfen. Er ist heute der beliebteste Heilige Italiens: Padre Pio! Sieben Millionen Menschen pilgern jährlich an sein Grab in San Giovanni Rotondo. 1961, als Sechzehnjähriger, durfte ich an seiner Messe teilnehmen. Sie ist mir unvergesslich. Nie vorher oder nachher hat mich eine Messe so beeindruckt. Die kurze Begegnung danach hat mich tief bewegt. Zahllose Menschen haben durch ihn seelische und leibliche Heilung erhalten. Padre Pio kann zu Recht als großer Heiliger bezeichnet werden. Er steht deshalb auch im Kalender unter dem 23. September.
Papst Franziskus spricht oft von einer anderen Art von Heiligen. Er nennt sie „die Heiligen von Nebenan“. Sie sind nicht besonders auffallend. Sie bekommen keinen eigenen Gedenktag. Von ihnen sind auch keine Wunder überliefert. Und doch haben sie etwas, was einen an Heilige denken lässt. Es sind Menschen, die ihren Alltag leben ohne viel zu klagen, obwohl sie Grund genug dafür hätten. Sie haben ein Ohr für die Sorgen anderer, ein Auge für das, was gerade notwendig ist, ein Herz für die einfachen Menschen, immer ein gutes Wort, das wohltut und eine Prise Humor, die das Leben aufhellt. Solche Heilige gibt es unter unseren Nachbarn. Wir müssen sie nur entdecken.
Matthäus 5,1-12
In jener Zeit, als Jesus die vielen Menschen sah, die ihm folgten, stieg er auf den Berg. Er setzte sich
und seine Jünger traten zu ihm. Und er öffnete seinen Mund, er lehrte sie und sprach: Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden. Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land erben. Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden. Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden. Selig, die rein sind im Herzen; denn sie werden Gott schauen. Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden. Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und alles Böse über euch redet um meinetwillen. Freut euch und jubelt: Denn euer Lohn wird groß sein im Himmel.