Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 10. November 2024
Bei einer meiner ersten Autofahrten als neuer Führerscheininhaber habe ich ein Stoppzeichen übersehen. Ich spüre noch heute den Schrecken, als ich es merkte. Gott sei Dank ist nichts passiert. Es hätte ein schrecklicher Unfall werden können. Verletzend kann es sein, wenn wir Menschen übersehen. Auch das passiert. Immer wieder übersehen wir Dinge und Menschen. Es ist fast unvermeidlich. Alles zu sehen wäre unerträglich. „Nur wer viel übersehen kann, hat Übersicht“ – dieser Spruch hängt in meinem Büro. Er enthält ein Körnchen Wahrheit. Ebenso wichtig ist es, aufmerksam hinzuschauen.
Wer mit Jesus und seinem Evangelium zu gehen versucht, kommt bei ihm in eine Schule des Sehens. Wenn ich das Evangelium betrachte, hilft es mir, besonders auf das Schauen und Sehen Jesu zu achten. „Kommt und seht“ ist die erste Einladung, die Jesus an seine Jünger richtet. Auch im heutigen Evangelium steht das Hinschauen im Mittelpunkt. Die Szene spielt sich im Tempel in Jerusalem ab. Der Zeitpunkt ist wichtig: Es sind die Tage unmittelbar vor dem Pessach-Fest, das Jesus als einer unter vielen tausenden Pilgern zu feiern gekommen ist. Es ist das letzte Osterfest seines Lebens-
Jesus sitzt dem „Opferkasten“ gegenüber und beobachtet die Menschen, die kommen und gehen und ihre Geldspenden für den Tempel in den Kasten werfen. Es tut gut, sich manchmal einfach hinzusetzen und die Menschen bewusst wahrzunehmen. Selten, viel zu selten, nehmen wir uns die Zeit dafür. Was wir da nicht alles sehen könnten (statt nur auf unser Handy zu starren)! Es setzt voraus, dass wir uns für die Menschen um uns herum interessieren und nicht nur, wie es meist sein muss, eilig aneinander vorbeilaufen. Jesus nimmt bewusst wahr, wer da Geld gibt: „Viele Reiche kamen und gaben viel.“ Weil er genau hinschaut, übersieht er nicht eine arme Frau, die zwei kleine Münzen hineinwirft. Sie fesselt seine Aufmerksamkeit. Sie ist ihm so wichtig, dass er seine Jünger zu sich ruft, als müsste er ihnen etwas zeigen, was sie unbedingt sehen sollen. Den Jüngern war das Herumschauen im prächtigen Tempel wichtiger als das Wahrnehmen einer armen Frau. Es macht einen Unterschied, ob ich eine Stadt, einen Dom als Tourist betrachte oder ob ich auch die Menschen beachte, denen ich dort begegne.
Jesus zeigt seinen Jüngern, die wie Touristen im Tempel herumspazieren, diese
eine arme Witwe. Sie weiß nichts darum, dass Jesus sie seinen Jüngern als das Wichtigste im ganzen Tempel vor Augen stellt: „Diese Frau, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles hergegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt.“
Warum ruft Jesus seine Jünger zusammen, nur um ihnen diese Frau zu zeigen? Offensichtlich geht es ihm darum, dass sie Menschen wie diese arme Witwe nicht übersehen. Den Weg mit Jesus gehen heißt lernen, Menschen mit seinem Blickwinkel zu sehen. Die kleine Szene des heutigen Evangeliums sagt so viel über Jesus, wer er ist und worum es ihm geht. In dieser unscheinbaren Frau zeigt Jesus, „wer groß ist im Himmelreich“, wie er sagt. Kurz vor der Hingabe seines eigenen Lebens sieht er in der armen Witwe seinen eigenen Weg vorgezeichnet. Sie hat „alles gegeben“. Bald wird er selber „alles geben“, sich selber, sein Leben. Die Reichen haben von ihrem Überfluss gegeben. Das ist gut. Größer sind die „Kleinen“ dieser Welt. Sie haben kaum das Nötigste. Trotzdem sind sie selbstlos wie diese Witwe. Menschen wie sie nicht zu übersehen, lernen wir in Jesu Schule des Sehens.
Markus 12,41-44
In jener Zeit, als Jesus im Tempel dem Opferkasten gegenübersaß, sah er zu, wie die Leute Geld in den Kasten warfen. Viele Reiche kamen und gaben viel. Da kam auch eine arme Witwe und warf zwei kleine Münzen hinein. Er rief seine Jünger zu sich und sagte: Amen, ich sage euch: Diese arme Witwe
hat mehr in den Opferkasten hineingeworfen als alle andern. Denn sie alle haben nur etwas von ihrem Überfluss hineingeworfen; diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles hergegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt.