Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium
vom 17. November 2024
Jesus liebt es, seine Zuhörer auf die Natur aufmerksam zu machen. „Lernt etwas aus dem Vergleich mit dem Feigenbaum.“ Mir ist dabei als erstes der Klimawandel eingefallen: Je wärmer es bei uns wird, desto mehr gedeihen auch bei uns die Feigenbäume mit ihren köstlichen Früchten. Einen Experten habe ich sagen gehört, Zwettl werde das Klima von Athen bekommen, wenn es mit der Erderwärmung so weitergeht. Werden dann auch die Olivenbäume unsere Landschaft prägen?
Jesus meinte damals sicher nicht den Klimawandel. Ihm geht es um die einfache Beobachtung, die wir auch an unseren gewohnten Obstbäumen machen können: Sobald sie Blätter treiben und die Blüten kommen, wissen wir, dass der Sommer nahe ist. Aus diesem Vergleich sollen wir lernen, dass der Menschensohn (so nennt sich Jesus oft selber) nahe vor der Tür steht. Im heutigen Evangelium geht es also um die Anzeichen, dass Jesus bald kommen wird. „Er wird wiederkommen in Herrlichkeit“, bekennen wir Christen. Wie sollen wir uns das vorstellen?
Jesus selber spricht davon in Bildern und rätselhaften Worten. Sie sind nicht leicht auf einen Nenner zu bringen. Geht es um das Ende der Welt? Um einen Weltuntergang mit Schrecken und Katastrophen? Nicht nur das Wie ist offen. Noch offener ist das Wann. Jesus scheint zu erwarten, dass das schon sehr bald geschehen wird: „Diese Generation wird nicht vergehen, bis das alles geschieht.“ Die Christen der Frühzeit dürften diese „Naherwartung“ vertreten haben. Darauf deutet der inständige Ruf „Maranatha“ hin, das „Komme bald, Herr!“ im Gottesdienst der Urkirche. Durch alle Jahrhunderte bis heute haben immer wieder Menschen geglaubt, sie würden noch das Ende der Welt erleben. Jesus schiebt solchen Vorstellungen einen klaren Riegel vor: „Jenen Tag und jene Stunde kennt niemand“, nur Gott allein.
Wenn das Ende uns völlig unbekannt ist und bleibt, was sollen wir dann noch vom Feigenbaum lernen? Der normale Verlauf der Natur ist der Rhythmus der Jahreszeiten. Auf ihn ist doch ziemlich sicherer Verlass. Außer es geschehen Katastrophen. Auch von ihnen spricht Jesus. Sind sie Vorboten des Weltuntergangs? Sie beschäftigen unsere Phantasie, weil sie echte Bedrohungen sind. Ein großer Komet, gewaltige Erdbeben, Vulkanausbrüche, kosmische Ereignisse: „Die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden.“ All das ist möglich und kann auch immer wieder geschehen. Eines ist auf alle Fälle gewiss: „Himmel und Erde werden vergehen.“ Die Welt hat Anfang und Ende, wie alles in der Welt. Das lehrt uns die Natur, der Feigenbaum und alles, was lebt. „Nichts hält ewig …“, das ist unsere tägliche Erfahrung. Unser Gewand altert, und wir mit ihm.
Will Jesus uns nur diese Alltagsweisheit nahebringen? Im Vergleich mit dem Feigenbaum geht es um etwas anderes. So wie die Blätter des Feigenbaums zeigen, dass der Sommer nahe ist, „so erkennt auch ihr, wenn ihr das geschehen seht, dass er nahe vor der Tür steht“. Es geht nicht um Drohungen und Angstmache vor der Zukunft, so ungewiss sie immer war und bleiben wird. Jesus will nur eine Gewissheit vermitteln: dass er uns nahe ist. Er spricht viel von den Drangsalen, die die Welt erwarten. Sie bleiben uns nicht erspart. Er hat sie selber durchlitten. Wir brauchen nicht finstere Endzeitpropheten und Schwarzmaler. Viele erleben schon genug Dunkel und Leid in ihrem Leben. Aus Jesu Worten spricht große Hoffnung und echter Trost. Alles vergeht früher oder später, „aber meine Worte werden nicht vergehen“. Vom Feigenbaum können wir lernen, dass Er nahe ist, zu der Zeit, bis zu guter Letzt.
Markus 13,24-32
In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: In jenen Tagen, nach jener Drangsal, wird die Sonne verfinstert werden und der Mond wird nicht mehr scheinen; die Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. Dann wird man den Menschensohn in Wolken kommen sehen, mit großer Kraft und Herrlichkeit. Und er wird die Engel aussenden und die von ihm Auserwählten aus allen vier Windrichtungen zusammenführen, vom Ende der Erde bis zum Ende des Himmels. Lernt etwas aus dem Vergleich mit dem Feigenbaum! Sobald seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, erkennt ihr, dass der Sommer nahe ist. So erkennt auch ihr, wenn ihr das geschehen seht, dass er nahe vor der Tür ist. Amen, ich sage euch: Diese Generation wird nicht vergehen, bis das alles geschieht. Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden
nicht vergehen. Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater.