Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 8. Dezember 2024
Vor 50 Jahren, am 24. November 1974 wurde in Hadar in Äthiopien ein sensationeller Fund gemacht: ein weitgehend vollständiges Teilskelett eines Hominiden, also eines Menschenaffen. Das Alter: 3,18 Millionen Jahre! Die Entdecker gaben ihr, es ist eine „sie“, den liebevollen Namen Lucy nach einem damals berühmten Song der Beatles. Lucy war noch nicht ein Mensch unserer Art, aber sie gilt als ein wichtiges Glied im Stammbaum unserer Vorfahren. Ich habe mich schon damals für die Urgeschichte des Menschen interessiert und aufmerksam die Berichte über Lucy gelesen. Zum 50. „Geburtstag“ ihrer Entdeckung wird wieder viel über sie geschrieben.
Natürlich beschäftigt mich seit langem die Frage, wie die biblischen Berichte über die Erschaffung des Menschen, über Adam und Eva, mit den wissenschaftlichen Ergebnissen über die millionenjährige Geschichte der Entwicklung des Menschen zusammenpassen. Ich habe persönlich nie einen Widerspruch zwischen Wissenschaft und Glauben empfunden. Die Wissenschaft erforscht die Entwicklung des Lebens auf unserer Erde, bis hin zum Auftreten der Gattung „Mensch“. Der Glaube befasst sich mit der Frage: Was ist der Mensch? Was macht ihn zum Menschen? Wie wurden aus Lucy in drei Millionen Jahren wir heutigen Menschen? Auf diese Frage versucht die Bibel eine mögliche Antwort zu geben. Vor allem geht sie dem dunklen Rätsel nach, wie das Böse, die Sünde in die Welt kam.
Kannte Lucy Liebe? Konnte sie gemein, hinterhältig, boshaft sein? Wieso konnten es Adam und Eva? Wieso wir alle? Grausam ging es immer schon zu in der Natur, in der Tierwelt, im Kampf ums Überleben. Sittlich böse sind erst wir Menschen. Wie kam es dazu? Die Bibel erzählt das in der Geschichte mit der Schlange, der Verführung, von der verbotenen Frucht zu essen, und von den Folgen dieses „Sündenfalls“. Es ist keine Reportage, vielmehr der Versuch, im menschlichen Herzen die Versuchung zum Bösen zu orten. Die Lehre der Kirche spricht von „Erbschuld“, die uns alle anfällig macht, dem Hang zum Bösen zu folgen. Die Bibel nennt die ersten Menschen Adam und Eva, das heißt „Mensch“ und „Mutter aller Lebenden“, Mann und Frau: „Männlich und weiblich erschuf er sie“, sagt das erste Kapitel der Bibel.
Die heutige Lesung aus dem 3. Kapitel der Genesis zeigt erschreckend, wie das Böse sich in das Herz des Menschen einschleicht. Nachdem Eva und dann auch Adam von der verbotenen Frucht gegessen haben, verstecken sie sich vor Gott. Wir nennen es das schlechte Gewissen. Sie schämen sich, weil sie spüren, dass sie nackt sind. „Hast du von dem Baum gegessen, von dem ich dir geboten habe, davon nicht zu essen?“ Adams Antwort ist erschütternd. Sie zeigt, was wir Menschen ständig tun: Statt uns zu entschuldigen und die Schuld auf uns zu nehmen, beschuldigen wir die anderen: „Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben. So habe ich gegessen.“ Eine jüdische Überlieferung sagt: Hätte Adam gleich eingestanden, dass er gesündigt hat, wir wären alle noch im Paradies.
Das macht uns Menschen zu Menschen: dass wir wissentlich sündigen und auch ehrlich bereuen können. Anfällig für das Böse sind wir alle, weil wir Kinder von Adam und Eva sind, eben Menschenkinder. Heute, am 8. Dezember, feiern wir Maria Empfängnis. Sie ist „ohne Erbsünde empfangen“. In ihr war nicht die uns alle so belastende Neigung zum Bösen. Sie hat Jesus geboren, in dem uns sichtbar wurde, wie Gott den Menschen wollte. Von Lucy bis zu ihm war es ein langer Weg.
Genesis 3,9-15.20
Nachdem der Mensch vom Baum gegessen hatte, rief Gott, der Herr, ihm zu und sprach: Wo bist du? Er antwortete: Ich habe deine Schritte gehört im Garten; da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin, und versteckte mich. Darauf fragte er: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du von dem Baum gegessen, von dem ich dir geboten habe, davon nicht zu essen? Der Mensch antwortete: Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben.
So habe ich gegessen. Gott, der Herr, sprach zu der Frau: Was hast du getan? Die Frau antwortete: Die Schlange hat mich verführt. So habe ich gegessen. Da sprach Gott, der Herr, zur Schlange: Weil du das getan hast, bist du verflucht unter allem Vieh und allen Tieren des Feldes. Auf dem Bauch wirst du kriechen und Staub fressen alle Tage deines Lebens. Und Feindschaft setze ich zwischen dir und der Frau, zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen. Er trifft dich am Kopf und du triffst ihn an der Ferse. Der Mensch gab seiner Frau den Namen Eva, Leben, denn sie wurde die Mutter aller Lebendigen.