Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 22. Dezember 2024.
Weihnachten steht vor der Tür: letzte Vorbereitungen für das Fest! Es wird wohl wenig Zeit bleiben, um in Ruhe das heutige Evangelium vom 4. Adventsonntag zu lesen und darüber nachzudenken. Ich will es dennoch versuchen und einladen, es auch zu tun. Dazu empfehle ich eine einfache Methode, die „Bibelteilen“ genannt wird. Ich praktiziere sie oft mit meinen Mitarbeitern. Wie sieht das „Bibelteilen“ aus? Wir beginnen damit unsere Besprechungen, statt gleich mit dem Thema der Sitzung zu starten. Eine Person liest langsam den Bibeltext vor. Dann folgt eine Zeit der Stille, in der alle den Text im Herzen nachklingen lassen. Oft wird die Bibelstelle ein zweites Mal gelesen, ehe der Austausch beginnt, keine Diskussion, sondern jeder wiederholt ein Wort, einen Satz, der ihn besonders angesprochen hat. Erst ganz am Schluss folgt ein Gespräch, das oft sehr persönlich wird. Die Erfahrung des „Bibelteilens“ hat sich sehr bewährt. Sie wird weltweit praktiziert und erfordert kein Fachwissen. Das Wort der Heiligen Schrift kann uns alle berühren.
So versuche ich mit Ihnen zu teilen, was mir am heutigen Evangelium, gerade im Blick auf Weihnachten, zu Herzen geht. Maria macht sich auf den Weg. Sie spürt und weiß, dass sie ein Kind erwartet. Der Weg ist weit. Von Nazareth, wo sie zu Hause ist, ins Bergland von Judäa, ihrem Ziel, sind es gute 150 Kilometer. Ging sie alleine, eine junge, schwangere Frau? Auf jeden Fall hatte sie es eilig. Warum? Es war wohl weniger eine Sorge als die Freude, ihre deutlich ältere Verwandte zu sehen, Elisabeth, die bisher als unfruchtbar galt und die jetzt schon im sechsten Monat schwanger war. Sie will wohl ihre Freude mit Elisabeth teilen, der Älteren helfen, einfach mit ihr sein.
Zum „Bibelteilen“ gehört es, sich in die Situation hineinzudenken und sie gewissermaßen innerlich mitzuerleben. Wie soll ich das machen? Ich kann als Mann kaum nachempfinden, was die beiden schwangeren Frauen empfunden haben, als sie sich im Haus von Zacharias und Elisabeth begegneten. Viele Male haben Künstler diesen Moment betrachtet und darzustellen versucht. Auch sie üben auf ihre Art das „Bibelteilen“, indem sie uns solche Augenblicke im Bild vermitteln. „Bibelteilen“ heißt immer auch Erfahrungen zu teilen. Maria und Elisabeth tun das. Wir hören nicht, was sie miteinander über ihre Schwangerschaft ausgetauscht haben. Eines zeigt sich spürbar: Sie sind zu viert. Beide tragen ihr Kind unter dem Herzen. Das ältere Kind rührt sich spürbar, als wollte es das jüngere begrüßen. Nicht nur das Kind bewegt sich in Elisabeth. Auch der Heilige Geist wirkt in ihr. Er gibt ihr Worte ein, die bis heute in unserem Gebet nachwirken. In jedem „Gegrüßet seist du, Maria“ wird der Gruß von Elisabeth an Maria wiederholt.
Die letzte Phase des „Bibelteilens“ ist immer der Austausch über die persönlichen Erfahrungen. Mich berührt es, dass Maria sich eilends auf den Weg macht. Ich kenne diese Momente, in denen es mich innerlich drängt, gleich auf jemanden zuzugehen, mich für diese Person zu interessieren, etwas mit ihr zu teilen, eine Freude, ein Leid. Ich glaube, das kann ein Impuls des Heiligen Geistes sein, wie bei Maria. Auch Elisabeth spürt sein Wirken. So wird die Begegnung der beiden Frauen etwas vom Geist Gottes Erfülltes. Manche Begegnungen erlebe ich als eine Art Geschenk Gottes. Immer wieder staune ich in solchen Momenten über die Person, der ich begegnen darf und spüre Ehrfurcht vor ihr und vor ihrem Glauben, wie Elisabeth über den Glauben Mariens gestaunt hat. Dann ahne ich etwas vom Geheimnis Gottes im Leben dieses Menschen.
In jenen Tagen machte sich Maria auf den Weg und eilte in eine Stadt im Bergland von Judäa. Sie ging in das Haus des Zacharías und begrüßte Elisabet. Und es geschah: Als Elisabet den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leib. Da wurde Elisabet vom Heiligen Geist erfüllt und rief mit lauter Stimme: Gesegnet bist du unter den Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes. Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? Denn siehe, in dem Augenblick, als ich deinen Gruß hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leib.
Und selig, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ.