Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 2. März 2025.
Gibt es sie wirklich „in Reinformat“, „den guten Menschen“ und „den bösen Menschen“? Unterscheidet hier Jesus nicht zu sehr in Schwarz-Weiß-Tönen? Mein Heimatpfarrer, dem ich so viel verdanke, pflegte zu sagen: „Niemand ist so gut wie ihn die einen, und so schlecht wie ihn die anderen machen.“ Dieses Wort hat mein Leben geprägt, die Erfahrung hat es oft und oft bestätigt. Und trotzdem gibt mir zu denken, dass Jesus so klare Worte sagt. Lehrt nicht die Erfahrung eher, dass Jesus recht hat? Wer hat also recht?
Jesus spricht in Bildern. Seine Worte sind anschaulich. Manche wurden zu Sprichwörtern, bis heute. Sie sind ja alle aus der Alltagserfahrung genommen und waren wohl schon zur Zeit Jesu gängige Redewendungen. Eigentlich sagen sie nichts Neues. Sie sprechen nur aus, was wir alle wissen, wenn wir ehrlich auf die Wirklichkeit schauen. „Kann ein Blinder einen Blinden führen?“ Ja, er kann es, doch werden die Folgen für beide schlimm sein. Schlimm sind auch die Folgen, wenn jemand sich für sehend hält, tatsächlich aber verblendet ist und dennoch beansprucht, andere führen zu können. Jesus braucht gar keine Beispiele anzuführen. Wir können sie selber aus schmerzlichen Lebenserfahrungen ergänzen. Das Leben ist unser Lehrmeister. Es lehrt uns, zu unterscheiden zwischen klarer Sicht und nebulosen Versprechen.
Um Klarsicht geht es auch im berühmten Bild vom Splitter und vom Balken im Auge. Natürlich hat kein Balken im eigenen Auge Platz. Aber Blindheit für die eigenen, großen Fehler bei gleichzeitiger Scharfsicht für die kleinsten Fehler des anderen, das ist weit verbreitet. Ich wage zu sagen: Es ist der Normalfall unseres Alltagsverhaltens. Weil das so ist, muss Jesus ein drastisches Bild gebrauchen, um uns wachzurütteln: „Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; dann kannst du zusehen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen.“
Heißt das jetzt, dass wir unsere eigenen Fehler für riesengroß, die der anderen für winzig einschätzen sollen? Viel zu viele Menschen leiden an falschen Schuldgefühlen, halten sich für schlecht, haben mangelndes Selbstwertgefühl. Sie sehen sich als einen schlechten Baum, um im Bildwort Jesu zu bleiben. Sie fühlen sich wie Disteln, auf denen keine Feigen wachsen, wie Dornen, von denen niemand gute Trauben erntet. Am Ende halten sie sich selber für einen bösen Menschen, den einmal Gottes strafendes Urteil treffen wird. Ich bin in der Seelsorge immer wieder Menschen begegnet, die so von Gott und ihrem eigenen Leben denken. Sie hören im heutigen Evangelium eine Drohbotschaft, die ihre negative Selbsteinschätzung noch einmal verstärkt. Ihnen möchte ich heute Mut machen. Die Worte Jesu richten sich an die, die sich selber für die Besseren halten, ihre eigenen Fehler ausblenden und anderen die Moral predigen. Sie sind blind für ihre eigene Blindheit. Jesus geht es immer um das Herz. Aus dem guten Schatz des Herzens geht das Gute hervor, sagt Jesus. Im Menschenherzen wohnt freilich nicht nur das Gute. Daher Jesu klare Sprache. Sie verurteilt uns nicht. Sie zeigt uns nur nüchtern und liebevoll, wie sehr wir der Umkehr des Herzens bedürfen.
Lukas 6,39-45
In jener Zeit sprach Jesus in Gleichnissen zu seinen Jüngern: Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen? Werden nicht beide in eine Grube fallen? Ein Jünger steht nicht über dem Meister; jeder aber, der alles gelernt hat, wird wie sein Meister sein. Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Bruder, lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen!, während du selbst den Balken in deinem Auge nicht siehst? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; dann kannst du zusehen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen. Es gibt keinen guten Baum, der schlechte Früchte bringt, noch einen schlechten Baum, der gute Früchte bringt. Denn jeden Baum erkennt man an seinen Früchten: Von den Disteln pflückt man keine Feigen und vom Dornstrauch erntet man keine Trauben. Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens das Gute hervor und der böse Mensch bringt aus dem bösen das Böse hervor. Denn wovon das Herz überfließt, davon spricht sein Mund.
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