Es ist höchste Zeit, Augen und Herzen zu öffnen
Es ist höchste Zeit, Augen und Herzen zu öffnen
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
zum 26. Sonntag im Jahreskreis,
30. September 2001, (Lk, 16, 19-31)
Der reiche Prasser und der arme Lazarus: eines der einprägsamsten Gleichnisse Jesu; jahrhundertelang hat es die Menschen geprägt, dieses drastische Bild von arm und reich, wie wir es nicht mehr zu sehen gewohnt sind, wie es einem aber in der sogenannten Dritten Welt auf Schritt und Tritt begegnet. So unterschiedlich ihr Leben in dieser Welt ist - der Luxus des einen, Elend und Krankheit des anderen -, es wartet auf beide Einer, der keinerlei Unterschied macht: der Tod. Er wartet ganz gewiß auf jeden von uns.
Doch bleibt Jesus nicht bei dem Tod stehen, weiß, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Sein Blick “hinüber” ist keine Reportage, kein Fernsehfilm über das ewige Leben. In der Bilderwelt der jüdischen Jenseitsvorstellungen spricht der Meister von den Folgen des irdischen Lebens für das ewige Leben. Der reiche Prasser kommt in die Unterwelt, wo er schreckliche Qualen leidet. Der arme Lazarus wird von den Engeln in Abrahams Schoß getragen und ist glücklich. Die Rollen sind vertauscht. Der Reiche hat schon hier alles gehabt, jetzt ist der Arme der Glückliche.
Und nun die Frage: Gibt es nach dem Tod noch einmal eine Chance, das Geschick zu ändern? Die Antwort gibt uns Jesus durch das, was er Abraham dem reichen Prasser antworten lässt: Drüben ist es zu spät, drüben ist ein tiefer, endgültiger tiefer Graben zwischen den Einen und den Anderen. Jetzt hier, in diesem Leben, entscheidet sich dein ewiges Schicksal, zum Guten oder zum Schlechten. Du hast nur diese Lebenszeit! Jetzt mußt du dich entscheiden. Warte nicht zu, bis der Tod kommt, dann ist es zu spät.
Aber wenn einer von drüben käme und uns warnen würde? Jesu Antwort ist nüchtern: Ihr habt Gottes Wort, das ist klar genug. Wenn ihr darauf nicht hört, werdet ihr auch nicht wach werden, wenn einer von den Toten zurückkäme, um euch zu warnen. Alles kommt also darauf an, jetzt, heute, aufzuwachen, denn nach der Todesstunde ist es zu spät.
Hier liegt der Kern dieses Gleichnisses Jesu: auf’s Jetzt kommt es an. Hier liegt aber auch das Erschreckende an der Warnung Jesu: Der reiche Prasser ist blind geworden für den armen Lazarus vor seiner Tür. Er nimmt ihn gar nicht mehr wahr. Der Reiche hat sich so an seinen Reichtum gewöhnt, dass er kein Auge und kein Herz mehr für den Armen hat.
Und diese Blindheit nimmt er mit in den Tod und deshalb ist er auch drüben blind, unfähig, das ewige Glück zu erhalten. Er hat hier nur sich selber und sein Wohlergehen gesehen, Gottes Glück wird ihn drüben nicht erreichen.
So sagt uns Jesus durch dieses Gleichnis: Schlimmer als unsere Fehler wirken die Unterlassungen. die Versäumnisse. Übersieh nicht den Lazarus vor deiner Tür! Wie heißt er, wer ist er? Vielleicht bin ich wie der Prasser blind geworden für das, was sich vor meiner eigenen Haustüre abspielt. Es ist höchste Zeit, Augen und Herzen zu öffnen: Jetzt ist es noch nicht zu spät!
Es war einmal ein reicher Mann, der sich in Purpur und feines Leinen kleidete und Tag für Tag herrlich und in Freuden lebte. Vor der Tür des Reichen aber lag ein armer Mann namens Lazarus, dessen Leib voller Geschwüre war.
Er hätte gern seinen Hunger mit dem gestillt, was vom Tisch des Reichen herunterfiel. Statt dessen kamen die Hunde und leckten an seinen Geschwüren. Als nun der Arme starb, wurde er von den Engeln in Abrahams Schoß getragen. Auch der Reiche starb und wurde begraben.
In der Unterwelt, wo er qualvolle Schmerzen litt, blickte er auf und sah von weitem Abraham, und Lazarus in seinem Schoß.
Da rief er: Vater Abraham, hab Erbarmen mit mir und schick Lazarus zu mir; er soll wenigstens die Spitze seines Fingers ins Wasser tauchen und mir die Zunge kühlen, denn ich leide große Qual in diesem Feuer.
Abraham erwiderte: Mein Kind, denk daran, dass du schon zu Lebzeiten deinen Anteil am Guten erhalten hast, Lazarus aber nur Schlechtes. Jetzt wird er dafür getröstet, du aber musst leiden.
Außerdem ist zwischen uns und euch ein tiefer, unüberwindlicher Abgrund, sodass niemand von hier zu euch oder von dort zu uns kommen kann, selbst wenn er wollte.
Da sagte der Reiche: Dann bitte ich dich, Vater, schick ihn in das Haus meines Vaters!
Denn ich habe noch fünf Brüder. Er soll sie warnen, damit nicht auch sie an diesen Ort der Qual kommen.
Abraham aber sagte: Sie haben Mose und die Propheten, auf die sollen sie hören.
Er erwiderte: Nein, Vater Abraham, nur wenn einer von den Toten zu ihnen kommt, werden sie umkehren.
Darauf sagte Abraham: Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten aufersteht.