Etwas rührt sich im Herzen dieses verachteten Reichen
Etwas rührt sich im Herzen dieses verachteten Reichen
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
zum 1. Sonntag im Jahreskreis,
4.November 2001
(Lk 19,1-10)
Der Blick Jesu
Wieder ein Zöllner, diesmal sogar ein Oberzöllner, der "oberste Zollpächter". Zachäus war deshalb nicht nur reich, sondern "sehr reich". Dementsprechend auch gefürchtet, gehasst, verachtet: der Oberste dieser Halsabschneider, der sich die Taschen mit dem Geld der Armen vollgestopft hat.
Der Evangelist Lukas betont mehr als die anderen Evangelien, wie sehr Jesus sich den Armen zugewendet hat. Er erzählt aber auch mehr als die anderen davon, dass Jesus immer wieder bei den Reichen eingekehrt ist. Jesus schaut nicht auf arm oder reich, sondern auf das Herz.
Etwas rührt sich im Herzen dieses verachteten Reichen. Er hat von Jesus gehört, und er will sehen, wer er ist. Andere wollen Jesus auch sehen. Dichtes Menschengedränge. Keiner macht dem reichen Zachäus Platz, obwohl er mächtig und zu fürchten ist. Klein ist er, hinten steht er, und die Menge verstellt ihm den Blick. In dieser Szene kommt die ganze tiefe Ablehnung zum Ausdruck, die ihm von den meisten Menschen entgegengebracht wird. Und seine Einsamkeit, diese schreckliche Einsamkeit der Verachteten, die auch noch so viel Geld nicht füllen kann.
Da tut Zachäus etwas Unglaubliches: er, der oberste Zöllner, der wohl reichste Mann der Stadt, klettert auf einen Baum, nur um Jesus sehen zu können. Egal was die Leute sagen, wie sehr sie sich über den vornehmen Kletterer lustig machen mögen, er will sehen, "wer dieser Jesus ist".
Und Jesus bemerkt ihn, sieht ihn oben im Baum, blickt zu ihm hinauf. Woher kennt er ihn? Jesus kennt wie kein anderer die Menschen. Er hat die Selbstvergessenheit des Zachäus erkannt, die sein Herz für die Begegnung geöffnet hat: "Komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein".
Die Leute sind empört: weiß er denn nicht, was für ein schrecklicher Mensch dieser Zöllner ist? Aber bei diesem ist inzwischen ein tiefer Wandel geschehen. Sein Herz, das harte, verschlossene, verachtete und verletzte Herz des Zachäus hat sich aufgetan, weil Jesus ihn nicht verachtet hat, weil er ihn freudig zu sich gerufen hat, um bei ihm einzukehren. Daraufhin will Zachäus sein Unrecht wieder gutmachen, sein Vermögen mit den Armen teilen. Jesus hat sein Herz verwandelt.
Der Kontrast soll uns zu denken geben: wo wir einander verurteilen und verachten, schließen sich die Herzen, werden hart und selbstsüchtig und furchtbar einsam. Doch wenn uns der Blick Jesu trifft, der einzige Blick, in dem keine Spur von Verachtung und Verurteilen zu finden ist, dann kann sich das Herz öffnen, dann kann es um Verzeihung bitten und neu beginnen. Dann bin ich nicht mehr der, den seine Fehler und Versagen fertig machen. Jesus stellt den Zachäus wieder in die Gemeinschaft zurück, aus der er sich selber herausmanövriert und die ihn verstoßen hat: "auch dieser Mann ist ein Sohn Abrahams", er gehört zu uns, er gehört nicht ausgegrenzt und abgeschrieben.
Das, was mit Zachäus und seinem Haus, das heißt seiner Familie, geschehen ist, nennt Jesus "Heil". Zachäus war trotz seines Reichtums "verloren", die Begegnung mit Jesus, den er sehen wollte, der ihn gefunden hatte, wurde ihm zur Rettung. Wir müssen es nur dem Zachäus nachmachen, uns nicht genieren, nach Jesus auszuschauen, auch wenn man über uns lacht. Jesus wird uns nicht verspotten. Ihm gelten wir viel, sehr viel.
Dann kam er nach Jericho und ging durch die Stadt. Dort wohnte ein Mann namens Zachäus; er war der oberste Zollpächter und war sehr reich. Er wollte gern sehen, wer dieser Jesus sei, doch die Menschenmenge versperrte ihm die Sicht; denn er war klein. Darum lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um Jesus zu sehen, der dort vorbeikommen musste.
Als Jesus an die Stelle kam, schaute er hinauf und sagte zu ihm: Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein. Da stieg er schnell herunter und nahm Jesus freudig bei sich auf. Als die Leute das sahen, empörten sie sich und sagten: Er ist bei einem Sünder eingekehrt. Zachäus aber wandte sich an den Herrn und sagte: Herr, die Hälfte meines Vermögens will ich den Armen geben, und wenn ich von jemand zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück. Da sagte Jesus zu ihm: Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist. Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.