Löst ihm die Binden, und lasst ihn weggehen!
Löst ihm die Binden, und lasst ihn weggehen!
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
für den 5. Fastensonntag, 17.3.2002
(Joh 11,1-45)
Nahe bei Jerusalem liegt Bethanien. Dort wohnten drei Geschwister, die für Jesus eine besondere Bedeutung hatten: Maria, Marta und Lazarus. In ihrem Haus ist Jesus öfters eingekehrt, bei ihnen war er offensichtlich gerne, fühlte sich geborgen. Aber darf man von Jesus so sprechen? Hatte er, der doch Gottes Sohn war, solche menschliche Bedürfnisse nach Wohlwollen und Wohlfühlen?
Gerade das bestätigt das heutige Evangelium. Hier tritt ganz offen zu Tage, dass Jesus diese drei Geschwister von Herzen mochte: “Seht, wie lieb er ihn hatte!”, sagen die Leute, als sie Jesus am Grab von Lazarus heftig weinen sahen. Eine einfache Beobachtung drängt sich auf: Jesus hatte Freunde. Er, der Sohn Gottes, ist wirklich und ganz Mensch geworden. Gerade in dieser letzten Zeit vor Ostern, als die Feindschaft gegen ihn immer offenkundiger wird und sein Tod sich schon abzeichnet, da waren ihm offensichtlich seine Freunde in Bethanien besonders wichtig.
Wir wissen aus den seither vergangenen 2.000 Jahren, dass viele Menschen die Erfahrung der Freundschaft Jesu gemacht haben, auch wenn er seit Ostern nicht mehr sichtbar zu Gast kommt. Das schlichte Tischgebet, das vielen vertraut ist: “Komm, Herr Jesus, und sei unser Gast ...” spricht ja auch diese Erfahrung an.
Warum dann aber wartet Jesus so lange zu, als man ihm die Nachricht bringt: “Dein Freund Lazarus ist krank”? Geht man nicht gleich hin, wenn ein Freund sterbenskrank ist? Warum tut er das den beiden Schwestern an, die ihn inständig bitten, schnell zu kommen?
Ich glaube, auch das ist eine Erfahrung, die viele Menschen ähnlich wie Maria und Marta machen. Man betet, man fleht Gott um Hilfe an, und die Antwort bleibt aus: “Wärest du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben”, sagt Marta, als Jesus endlich kommt – und alles zu spät ist. Ich kenne Menschen, die ihr Vertrauen in Gott verloren haben, weil trotz allen Betens ein lieber Mensch dann doch gestorben ist.
Natürlich ist es ein Trost zu glauben, dass es ein Leben nach dem Tod geben wird. Marta glaubt das, wenn sie sagt: “Ich weiß, dass mein Bruder einmal, am Jüngsten Tag, auferstehen wird”. Und natürlich wissen wir alle, dass wir einmal sterben müssen. Aber wie oft kommt der Tod zu früh!
Und dieser Tod des geliebten Bruders und Freundes Lazarus kam menschlich gesehen sicher viel zu früh. In Trauer und Schmerz hinein sagt Jesus ein Wort, an dem sich Marta und Maria und viele Menschen seither festhalten konnten, wenn das Leid übergroß wird: “Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt.” Es gibt ein Leben, das auch den Tod nicht fürchten muss. Jesus sagt von sich, er sei dieses Leben. Wer sich an ihn hält, wer ihm vertraut, der sieht dem irdischen Lebensende nicht mit Panik entgegen, der fällt nicht durch das Tor des Todes in den Abgrund des Nichts, sondern tritt ins volle, ganze Leben ein.
Und damit wir vertrauen können, dass der Glaube an Jesus wirklich jetzt lebendig macht, ruft Jesus den Freund, der schon vier Tage lang tot ist, aus dem Grab heraus. Ich glaube fest, dass Jesus damals wirklich einen Toten, nicht einen Scheintoten, erweckt hat. Ähnliches ist seither oft und oft durch Heilige geschehen. Aber ich höre in diesem kräftigen "Lazarus, komm heraus" auch einen Ruf an mich, aus meinem Grab und meinen Fesseln heraus zu kommen.
So viele Ängste lasten wie ein Grabstein auf meinem Leben. Der Glaube hebt sie weg, löst die Binden und läßt mich wieder leben. Auch ich kann Lazarus sein, so einer, den Jesus herausruft und wieder lebendig macht.
Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, wird leben
In jener Zeitwar ein Mann krank, Lazarus aus Betanien, dem Dorf, in dem Maria und ihre Schwester Marta wohnten.
Maria ist die, die den Herrn mit Öl gesalbt und seine Füße mit ihrem Haar abgetrocknet hat; deren Bruder Lazarus war krank.
Daher sandten die Schwestern Jesus die Nachricht: Herr, dein Freund ist krank.Als Jesus das hörte, sagte er: Diese Krankheit wird nicht zum Tod führen, sondern dient der Verherrlichung Gottes: Durch sie soll der Sohn Gottes verherrlicht werden.
Denn Jesus liebte Marta, ihre Schwester und Lazarus.Als er hörte, dass Lazarus krank war, blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er sich aufhielt.Danach sagte er zu den Jüngern: Lasst uns wieder nach Judäa gehen.Die Jünger entgegneten ihm: Rabbi, eben noch wollten dich die Juden steinigen, und du gehst wieder dorthin?
Jesus antwortete: Hat der Tag nicht zwölf Stunden? Wenn jemand am Tag umhergeht, stößt er nicht an, weil er das Licht dieser Welt sieht;wenn aber jemand in der Nacht umhergeht, stößt er an, weil das Licht nicht in ihm ist. So sprach er. Dann sagte er zu ihnen: Lazarus, unser Freund, schläft; aber ich gehe hin, um ihn aufzuwecken.
Da sagten die Jünger zu ihm: Herr, wenn er schläft, dann wird er gesund werden.Jesus hatte aber von seinem Tod gesprochen, während sie meinten, er spreche von dem gewöhnlichen Schlaf.
Darauf sagte ihnen Jesus unverhüllt: Lazarus ist gestorben.Und ich freue mich für euch, dass ich nicht dort war; denn ich will, dass ihr glaubt. Doch wir wollen zu ihm gehen.Da sagte Thomas, genannt Didymus - Zwilling -, zu den anderen Jüngern: Dann lasst uns mit ihm gehen, um mit ihm zu sterben.
Als Jesus ankam, fand er Lazarus schon vier Tage im Grab liegen.Betanien war nahe bei Jerusalem, etwa fünfzehn Stadien entfernt.Viele Juden waren zu Marta und Maria gekommen, um sie wegen ihres Bruders zu trösten.Als Marta hörte, dass Jesus komme, ging sie ihm entgegen, Maria aber blieb im Haus.
Marta sagte zu Jesus: Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben.Aber auch jetzt weiß ich: Alles, worum du Gott bittest, wird Gott dir geben.
Jesus sagte zu ihr: Dein Bruder wird auferstehen. Marta sagte zu ihm: Ich weiß, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am Letzten Tag. Jesus erwiderte ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. Glaubst du das?
Marta antwortete ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll.Nach diesen Worten ging sie weg, rief heimlich ihre Schwester Maria und sagte zu ihr: Der Meister ist da und lässt dich rufen. Als Maria das hörte, stand sie sofort auf und ging zu ihm. Denn Jesus war noch nicht in das Dorf gekommen; er war noch dort, wo ihn Marta getroffen hatte.
Die Juden, die bei Maria im Haus waren und sie trösteten, sahen, dass sie plötzlich aufstand und hinausging. Da folgten sie ihr, weil sie meinten, sie gehe zum Grab, um dort zu weinen. Als Maria dorthin kam, wo Jesus war, und ihn sah, fiel sie ihm zu Füßen und sagte zu ihm: Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben.
Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, war er im Innersten erregt und erschüttert. Er sagte: Wo habt ihr ihn bestattet? Sie antworteten ihm: Herr, komm und sieh!
Da weinte Jesus. Die Juden sagten: Seht, wie lieb er ihn hatte!Einige aber sagten: Wenn er dem Blinden die Augen geöffnet hat, hätte er dann nicht auch verhindern können, dass dieser hier starb?
Da wurde Jesus wiederum innerlich erregt, und er ging zum Grab. Es war eine Höhle, die mit einem Stein verschlossen war.Jesus sagte: Nehmt den Stein weg! Marta, die Schwester des Verstorbenen, entgegnete ihm: Herr, er riecht aber schon, denn es ist bereits der vierte Tag.
Jesus sagte zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen? Da nahmen sie den Stein weg. Jesus aber erhob seine Augen und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast.
Ich wusste, dass du mich immer erhörst; aber wegen der Menge, die um mich herum steht, habe ich es gesagt; denn sie sollen glauben, dass du mich gesandt hast. Nachdem er dies gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus!
Da kam der Verstorbene heraus; seine Füße und Hände waren mit Binden umwickelt, und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch verhüllt. Jesus sagte zu ihnen: Löst ihm die Binden, und lasst ihn weggehen!
Viele der Juden, die zu Maria gekommen waren und gesehen hatten, was Jesus getan hatte, kamen zum Glauben an ihn.