Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?
Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
für den 19. Sonntag im Jahreskreis, 11.8.2002,
(Mt 14,22-33)
Auf der Anhöhe über Tabga, dem Ort der wunderbaren Brotvermehrung, gibt es eine Höhle, von der die örtliche Überlieferung sagt, hierhin habe sich Jesus zurückgezogen, um in der Einsamkeit zu beten. Von dieser kleinen Grotte aus bietet sich ein großartiger Blick über den ganzen See Genesareth. So kann man sich die Szene des heutigen Evangeliums gut vorstellen. Während die Jünger schon mit dem Boot auf dem See sind, wohl heimwärts Richtung Kapharnaum fahrend, verabschiedet Jesus die vielen Menschen, die ihm zu Fuß an diesen einsamen Ort am Seeufer gefolgt waren und die nun ihrerseits heimkehren. Reich beschenkt mit dem, was sie von Jesus gehört und erhalten haben.
Wo aber ist Jesus zu Hause? Wo ruht er aus nach getaner Arbeit? Es heißt, er sei allein dort am Seeufer zurückgeblieben und habe sich auf den Berg über dem See zurückgezogen, "um in der Einsamkeit zu beten". Wenn wir Jesus kennen lernen wollen, dann finden wir ihn dort am besten, wo sein Herz ist, wo er zu Hause ist: in der innigen Verbindung mit Gott, den er "Vater" nennt. Aus dieser Mitte lebt er, aus dieser Quelle schöpft er seine Kraft.
Einsam am Berg bei Gott verliert er doch die Seinen nicht aus den Augen. Er sieht, wie sie mühsam rudern, denn inzwischen ist einer der häufigen heftigen Winde aufgekommen, die noch heute den See so gefährlich machen. Ich denke, das gilt bis heute: Jesus, der jetzt ganz beim Vater ist, sieht weiterhin, wie wir schwer zu rudern haben und nur mühsam mit unserem Lebensschiff vorankommen, wie uns die Lebensstürme bedrängen.
Und dann kommt Jesus zu ihnen, nicht gleich, nicht um sofort jede Mühe abzunehmen. Bis zur vierten, letzten Nachtwache - also erst gegen Ende der Nacht, kurz bevor der Tag dämmert - lässt er sie sich plagen mit dem aufgewühlten See. Hätte er nicht früher helfen können? Warum wartet er so lange, lässt uns - scheinbar - allein in unserer Not? Wir sehen in solchen stürmischen Stunden nur unsere eigene Bedrängnis, während er für uns wacht und betet, sodass wir im Sturm nicht untergehen.
Nach dem ersten Schrecken als sie ihn über das Wasser kommen sehen - es ist tröstlich zu sehen, dass auch so "g'standene Männer" wie diese Fischer aus Galiläa "vor Angst schrien" - will Petrus es Jesus gleich nachmachen und wagt sich aufs Wasser hinaus, Jesus entgegen. Ein starkes Bild für das Wagnis des Glaubens, der das unmöglich Scheinende möglich macht, einfach im Vertrauen auf den Zuruf Jesu: Komm! Trau dich, fürchte dich nicht! Und wie trostreich für uns, dass Petrus erlebt: wenn ich nur auf meine Kräfte baue, gehe ich unter. Wenn ich auf Jesus schaue und seine Hand mich fasst, gehe ich nicht unter. Danke, Petrus, du machst mir Mut, den Glauben zu wagen!
Nachdem Jesus die Menge gespeist hatte, forderte er die Jünger auf, ins Boot zu steigen und an das andere Ufer vorauszufahren. Inzwischen wollte er die Leute nach Hause schicken.
Nachdem er sie weggeschickt hatte, stieg er auf einen Berg, um in der Einsamkeit zu beten. Spät am Abend war er immer noch allein auf dem Berg.
Das Boot aber war schon viele Stadien vom Land entfernt und wurde von den Wellen hin und her geworfen; denn sie hatten Gegenwind.
In der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen; er ging auf dem See.
Als ihn die Jünger über den See kommen sahen, erschraken sie, weil sie meinten, es sei ein Gespenst, und sie schrien vor Angst.
Doch Jesus begann mit ihnen zu reden und sagte: Habt Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch nicht!
Darauf erwiderte ihm Petrus: Herr, wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir komme.
Jesus sagte: Komm! Da stieg Petrus aus dem Boot und ging über das Wasser auf Jesus zu.
Als er aber sah, wie heftig der Wind war, bekam er Angst und begann unterzugehen. Er schrie: Herr, rette mich!
Jesus streckte sofort die Hand aus, ergriff ihn und sagte zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?
Und als sie ins Boot gestiegen waren, legte sich der Wind.
Die Jünger im Boot aber fielen vor Jesus nieder und sagten: Wahrhaftig, du bist Gottes Sohn.