Liebe, und dann tu, was du willst!
Liebe, und dann tu, was du willst!
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
für den 30. Sonntag im Jahreskreis, 27.10.2002,
(Mt 22,34-40)
Wieder eine Fangfrage, wieder ein Versuch, Jesus eine Falle zu stellen, einen Grund zu finden, ihn anzuklagen und umzubringen. Die Frage sieht harmlos aus: Welches Gebet ist das Wichtigste? Vielleicht verfängt er sich in den vielen Diskussionen über die vielen Gebote und Verbote der Bibel und der jüdischen Tradition - über 600 werden gezählt.
Jesu Antwort ist so einfach und klar, dass auch seine schärfsten Gegner dem nicht widersprechen können. Bis heute gibt es keine kürzere und überzeugendere Antwort: Gott ganz und gar zu lieben und den Nächsten wie sich selbst. Das enthält alles, was Gott gebietet, wer diese beiden Gebote hält und lebt, hat alle anderen Gebote verwirklicht.
Uns ist diese Antwort Jesu so geläufig, so selbstverständlich nach 2000 Jahren des Wiederholens, dass wir vielleicht zu schnell über den Sinn und die Tragweite dieses Doppelgebotes der Gottes- und Nächstenliebe hinweggehen. Denn wissen wir wirklich, was es heißt, Gott mit ganzem Herzen zu lieben und ebenso den Nächsten? Jesus sagt, dass an diesen beiden Geboten alles hängt, was wir zu tun haben, was Gott von uns erwartet.
Eigenartig: Wenn Menschen diese beiden Gebote wirklich leben, ist es für jeden offensichtlich, dass es wirklich nur auf die Liebe ankommt. Beim guten Papst Johannes XXIII. oder bei Mutter Teresa von Kalkutta haben die Menschen das einfach gespürt. Aber wenn es darum geht, dass ich das leben und verwirklichen soll, sieht es schon viel schwieriger aus.
Im “Hohelied der Liebe” im 1. Brief an die Korinther nennt Paulus einige Eigenschaften der Liebe: Sie ist langmütig, gütig, prahlt nicht, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach, freut sich nicht am Unrecht, sondern an der Wahrheit, erträgt alles, hofft alles, hält allem stand. Wenn ich diese Liste mit meinem Verhalten vergleiche, stelle ich fest, dass ich noch lange nicht am Ende meines Weges bin, dass ich noch viel erkämpfen und vielleicht erleiden muss, bis ich zu einer solchen Liebe komme.
Wie komme ich dahin? Liebe, sagt der Heilige Augustinus, heißt zuerst: Ich will, dass du bist! Es ist gut, dass es dich gibt! Liebe hat zuerst mit Wohlwollen zu tun, und aus diesem heraus folgt dann, dass ich dem Anderen auch Gutes tue: Hier muss ich ansetzen: Bin ich meinem Nächsten gut? Nicht zuerst die Frage, ob er oder sie mir sympathisch sind. Das ist nicht in meiner Macht, was ich spontan empfinde. Wohl aber kann ich dem anderen das Gute wünschen, sein Wohl wollen.
Und hier verstehen wir, warum Jesus die Gottes- und Nächstenliebe untrennbar zusammenbindet. Um meinen Nächsten zu lieben, der ja nicht immer mein Liebster ist, der gelegentlich auch mein Feind sein kann, der gerade meine Hilfe braucht, gibt es keinen sichereren Weg, als daran zu denken, dass Gott ihm wohlgesonnen ist. Wenn ich bedenke, dass Gott diesen mir so mühsamen Nächsten ganz und gar liebt, und dass er sogar mich mit allen meinen Fehlern annimmt und zu mir Ja sagt, dann kann ich doch versuchen, auch den Nächsten zu lieben.
An so herrlichen Menschen wie Johannes XXIII. oder Mutter Teresa sehen wir, zu wieviel Kraft der Nächstenliebe Menschen fähig sind, die Gott mit ihrem ganzem Herzen, aus ganzer Seele und Kraft lieben. und dann verstehen wir, was der Heilige Augustinus sagt: “Liebe, und dann tu, was du willst!” Denn dann tust du sicher das Richtige.
In jener Zeit, als die Pharisäer hörten, dass Jesus die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, kamen sie bei ihm zusammen.
Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn auf die Probe stellen und fragte ihn: Meister,
36welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?
Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken.
Das ist das wichtigste und erste Gebot.
Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.