Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.
Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
zum 4. Sonntag der Osterzeit, 11.5.2003
(Joh 10, 11-18)
Auf alten Photos meiner böhmischen Heimat sah ich unseren Schafhirten, mit seinem weitkrempigen Hut, seinem Lodenmantel, an einen Baum gelehnt, einen Wollstrumpf strickend. Daneben der Schäferhund, rundherum die Schafherde: Ein Bild aus einer vergangenen Welt, nicht wesentlich anders als zur Zeit Jesu. Nur die Wölfe, von denen Jesus spricht, die die Herden rissen, gab es damals bereits nicht mehr in unseren Landen. In den kalten Wintern der Zwanzigerjahre hatte man sie das letzte Mal erlebt.
Ich kenne das alles nur mehr aus den Erzählungen der Alten, von vergilbten Photos. Ist das Bild vom guten Hirten deshalb für uns heutige Menschen unverständlich geworden? Ich glaube nicht. Ich glaube, die Worte Jesu vom guten Hirten berühren heute genauso noch die Seele, auch wenn der Schafhirt und seine Herde ein seltenes Bild geworden ist. Vielleicht liegt es daran, dass der gute, sorgende Hirte eine Art „Urbild der Seele“ ist. Es liegt wohl auch an der Kraft der Worte Jesu selbst. Nicht der Hirte verdeutlicht, was Jesus sagt, sondern umgekehrt: Jesus macht erst spürbar, was wirklich an seelischer Kraft im Bild des guten Hirten liegt. Denn keiner ist Hirte wie Er!
„Der gute Hirte gibt sein Leben hin für die Schafe“. An diesen Bild berührt das Gefühl von Geborgenheit. Diesem Hirten sind seine Schafe so wichtig wie sein eigenes Leben, ja noch wichtiger. Wenn es ernst wird rennt er nicht davon, lässt er die Seinen nicht im Stich, um sich selber in Sicherheit zu bringen und die eigene Haut zu retten. Wer einen solchen Hirten hat, der kann sich in Schutz und Sicherheit wissen.
Wie sehr brauchen wir alle solche Menschen, die nicht nur an sich und ihr eigens Wohlergehen denken! Wie sehr brauchen Kinder solche Eltern, Mitarbeiter solche Chefs, Gläubige solche Priester und Bischöfe! Wie sehr brauchen wir Menschen, die ihren Dienst nicht nur als “Job”, sondern als ”Hirtensorge” leben!
Der gute Hirt lässt seine Herde nicht im Stich, wenn es „brenzlig“ wird, wenn der Wolf die Herde bedroht. Zur Hirtenaufgabe gehört auch die Bereitschaft, sich dem Bösen, Schädlichen entgegenzustellen; die Dinge nicht einfach laufen zu lassen, nur um unangenehme Schritte zu vermeiden.
Eltern sind „gute Hirten“, wenn sie nicht einfach alles durchgehen lassen, negative Einflüsse abwehren. Auch von den „Hirten der Kirche“ erwartet Christus, der „Oberhirte“, dass sie den Mut haben, nicht zu allem „Ja und Amen“ zu sagen, nur um nicht anzuecken. Jesus hat das Beispiel gegeben, dass der Hirt die Seinen schützen muss, auch um den Preis, sich unbeliebt zu machen.
„Ich kenne die meinen und die meinen kennen mich.“ Der Hirt kennt seine Herde und sie kennt ihn. Wir spüren meist sehr bald, ob es einem Hirten um uns oder um sich selber geht. Nicht die Strenge der Eltern tut den Kindern weh, sondern das Gefühl, dass sie ihnen nicht wichtig sind. Es berührt zutiefst, wenn wir Menschen begegnen, die solche Hirten sind. Und Gott sei Dank gibt es sie, in der Familie, im Berufsleben, in der Politik, in der Kirche. Sie vermitteln, was wir so sehr brauchen: Geborgenheit und Zuversicht. Ihnen gilt es zu danken. Keiner aber ist mehr ein solcher Hirt als Jesus selbst. Keiner mag uns so wie Er. Nur Er ist ganz und gar „der gute Hirt“.
In jener Zeit sprach Jesus: Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.
Der bezahlte Knecht aber, der nicht Hirt ist und dem die Schafe nicht gehören, lässt die Schafe im Stich und flieht, wenn er den Wolf kommen sieht; und der Wolf reißt sie und jagt sie auseinander. Er flieht, weil er nur ein bezahlter Knecht ist und ihm an den Schafen nichts liegt.
Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben hin für die Schafe.
Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen und sie werden auf meine Stimme hören; dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten.
Deshalb liebt mich der Vater, weil ich mein Leben hingebe, um es wieder zu nehmen.
Niemand entreißt es mir, sondern ich gebe es aus freiem Willen hin. Ich habe Macht, es hinzugeben, und ich habe Macht, es wieder zu nehmen.
Diesen Auftrag habe ich von meinem Vater empfangen.