Schlimmer als das leibliche Stummsein ist das Verstummen der Liebe untereinander.
Schlimmer als das leibliche Stummsein ist das Verstummen der Liebe untereinander.
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
zum 23. Sonntag im Jahreskreis 7. September 2003
(Mk 7,31-37)
Nicht Hören und nicht Sprechen können - wem beides gegeben ist, der kann sich schwer vorstellen, was das bedeutet. Keine Musik hören können, kein Rauschen der Brandung, keine Vogelstimmen, nichts von all den Geräuschen des Alltags, die manchmal belasten, die aber doch zum Leben gehören, – all das muss schwer zu tragen sein.
Und wenn zur Taubheit auch noch das Stummsein kommt, kein Wort hören, aber auch kein Wort sagen können, dann muss das Leid noch viel größer sein. Erst wenn wir daran denken, wenn wir Taubstummen begegnen, geht uns auf, wie kostbar es ist, Ohren und Mund, Gehör und Sprache gebrauchen zu können. Und vielleicht wird uns bewusst, wie oft sie missbraucht werden, etwa indem wir unser Ohr allerlei Tratsch und bösem Gerede leihen oder gar es mit dem eigenen Mund verbreiten.
Großartig ist, was heute möglich ist, um Taubstummen eine bessere Verbindung zu ihren Mitmenschen zu ermöglichen und was von den Betroffenen selber diesbezüglich geleistet wird. Ich sah neulich am Flughafen eine ganze Gruppe taubstummer Menschen, die mit Hilfe ihrer Zeichensprache ein angeregtes Gespräch führten.
Zur Zeit Jesu war das Los der Taubstummen noch schwerer. Einen bringt man zu Jesus. Die Leute haben Mitleid mit ihm und hoffen, dass Jesus das Unmögliche schafft, ihm zu helfen, ja ihn zu heilen. Das Vertrauen dieser Leute muss groß gewesen sein. Sie waren wohl Heiden, keine Juden, denn das Gebiet der Dekapolis war (und ist auch heute) außerhalb Israels. Ein echtes und starkes Mitleid mit dem Behinderten bewegt sie zu diesem vertrauensvollen Schritt.
Jesus ist bereit, ihm zu helfen. Aber nicht vor der ganzen neugierigen Menge. Es soll kein Spektakel werden. So geht er behutsam mit ihm beiseite, er mit ihm alleine. Seine Gesten sind schlicht und verständlich. Er berührt was behindert ist und zeigt damit, wie sehr ihn das Leid des Behinderten berührt. Sein Seufzen ist eine wortlose Bitte an den Himmel, an Gott Seinen Vater, und mit seiner göttlichen Macht spricht er das lösende, befreiende Wort: Öffne dich! Die Ohren öffnen sich, die Zunge legt die Fesseln ab, der Mann kann richtig hören und reden.
Was damals so staunenswert mit einem Taubstummen geschah, ist ein Zeichen für alle. Schlimmer als das körperliche Taubsein ist das des Herzens, wenn wir vor lauter Lärm und Getöse des Alltags oder des Egoismus, die Stimme des Anderen nicht mehr wahr nehmen, wenn wir taub werden für das was Gott durch Sein Wort und durch andere Menschen uns sagen will.
Schlimmer als das leibliche Stummsein ist das Verstummen der Liebe untereinander, wenn man sich kalt anschweigt oder wenn Bitterkeit, Enttäuschungen, Verletzungen den Mund verschließen, kein gutes Wort mehr aufkommen lassen.
Wenn wir das merken, wenn das bei uns geschieht, dann sollen wir einander zu Jesus hinbringen, damit er uns berührt. Und dann kann das noch größere Wunder geschehen, dass Er uns neu Ohren und Mund öffnet, dass wir wieder aufeinander hören und miteinander zu reden beginnen, dass Gott uns neu zu Herzen spricht und unsere tauben und stummen Herzen öffnet: "Er hat alles gut gemacht", können dann auch wir dankbar und staunend sagen.
In jener Zeit verließ Jesus das Gebiet von Tyrus wieder und kam über Sidon an den See von Galiläa, mitten in das Gebiet der Dekapolis.
Da brachte man einen Taubstummen zu Jesus und bat ihn, er möge ihn berühren. Er nahm ihn beiseite, von der Menge weg, legte ihm die Finger in die Ohren und berührte dann die Zunge des Mannes mit Speichel; danach blickte er zum Himmel auf, seufzte und sagte zu dem Taubstummen: Effata!, das heißt: Öffne dich! Sogleich öffneten sich seine Ohren, seine Zunge wurde von ihrer Fessel befreit und er konnte richtig reden.
Jesus verbot ihnen, jemand davon zu erzählen. Doch je mehr er es ihnen verbot, desto mehr machten sie es bekannt.
Außer sich vor Staunen sagten sie: Er hat alles gut gemacht; er macht, dass die Tauben hören und die Stummen sprechen.