Um zu hören, brauche ich eine gewisse Stille.
Um zu hören, brauche ich eine gewisse Stille.
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
zum 2. Adventsonntag, 7. Dezember 2003,
(Lk 3,1-6)
Märchen beginnen meistens ungefähr so: "Es lebte einmal ein König…" oder "Vor langer, langer Zeit lebte einmal ein armer Fischer mit seiner Frau…". Zum Märchen gehören keine genauen Zeitangaben. Auch der Ort der Handlung wird nicht namentlich genannt. Irgendwann und irgendwo geschah es. Ort und Zeit spielen keine große Rolle. Es geht um typisch menschliche Situationen, um Urerfahrungen, die irgendwie allgemein gültig sind. Märchen erzählen Geschichten, nicht Geschichte.
Ganz anders das heutige Evangelium. Es berichtet Geschichte, es erzählt keine Geschichten. Es spricht von einem ganz genauen Zeitpunkt der Weltgeschichte, nicht von einer unbestimmten "grauen Vorzeit". Es sagt nicht "Es war einmal…", sondern datiert genau. Das fünfzehnte Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius war das Jahr 27-28 nach Christus. Zu diesem Zeitpunkt war der grausame Pontius Pilatus römischer Statthalter in Judäa, die beiden verhassten Söhne des Herodes des Großen waren Lokalfürsten von des Kaisers Gnaden, sittenlos und ebenfalls grausam. Die beiden Hohepriester sind uns aus dem Prozess Jesu bekannt.
"In jener Zeit" ging es also gar nicht friedlich und rosig zu. Es war eine schlimme Zeit, wie ja die meisten Zeiten für die meisten Menschen schlimme Zeiten sind, voll Not und Entbehrungen und hartem Überlebenskampf. In jener Zeit also, genau damals, im Jahre 28/29, hat Gott in diese leidvolle Geschichte eingegriffen. Wie geschah das?
"Das Wort Gottes erging an Johannes." Gott greift ein, indem er Menschen ruft. Und wenn Menschen diesen Ruf ergreifen, kann Gott durch sie Großes wirken. So war es mit einem Franz von Assisi, einer Mutter Theresa. Sie haben Gottes Ruf gehört und befolgt.
Ich frage mich immer wieder: Wie haben diese Menschen Gottes Ruf gehört? Woher wussten sie, dass es nicht eine Einbildung, eine Selbsttäuschung war? Gott spricht ja nicht per Telefonanruf. Wie ist seine Stimme vom Stimmengewirr der Umgebung zu unterscheiden?
Der Ruf Gottes erging an Johannes "in der Wüste". Damit Gott zu mir sprechen kann, muss ich hören. Um zu hören, brauche ich eine gewisse Stille. Deshalb war Johannes in der Wüste. Dort ist die Stille so dicht, dass das Herz zur Ruhe kommt und zu hören beginnt.
In unserer heutigen Welt ist Stille ein rares Gut geworden. Daher liegt mir so viel daran, dass unsere Kirchen offen sind. Wer im hektischen Alltag die Stille sucht, wird sie im durchbeteten Raum unserer Gotteshäuser finden. Viele erfahren dabei, dass Gott zu ihrem Herzen spricht. Sie gewinnen innere Klarheit, erleben Trost, Hilfe für Entscheidungen. Wenn dabei Friede ins eigene Herz kommt, können wir sicher sein, dass er von Gott kommt.
Was aber sprach Gott zu Johannes in der Wüste? Es waren vor allem Worte der Hoffnung. Er solle dem Herrn den Weg bereiten, das Krumme soll gerade, die Hindernisse sollen beseitigt werden. Gott soll wieder Platz finden, die Menschen sollen wieder zu Gott gelangen können. Johannes der Wegbereiter, so wird er gerne dargestellt. Seine Geschichte ist kein Märchen. Auf dem Weg, den er bereitet hat, ist Gott wirklich zu den Menschen gekommen: als das kleine Kind in Bethlehem, als der Erlöser aller Menschen. Diese wirkliche Geschichte hat mit Weihnachten begonnen.
Es war im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius; Pontius Pilatus war Statthalter von Judäa, Herodes Tetrarch von Galiläa, sein Bruder Philippus Tetrarch von Ituräa und Trachonitis, Lysanias Tetrarch von Abilene; Hohepriester waren Hannas und Kajaphas.
Da erging in der Wüste das Wort Gottes an Johannes, den Sohn des Zacharias. Und er zog in die Gegend am Jordan und verkündigte dort überall Umkehr und Taufe zur Vergebung der Sünden.
So erfüllte sich, was im Buch der Reden des Propheten Jesaja steht: Eine Stimme ruft in der Wüste:
Bereitet dem Herrn den Weg! Ebnet ihm die Straßen! Jede Schlucht soll aufgefüllt werden, jeder Berg und Hügel sich senken. Was krumm ist, soll gerade werden, was uneben ist, soll zum ebenen Weg werden.
Und alle Menschen werden das Heil sehen, das von Gott kommt.