Vieles kann ich lernen, wenn ich genau auf die Menschen hinschaue, die Jesus selig preist!
Vieles kann ich lernen, wenn ich genau auf die Menschen hinschaue, die Jesus selig preist!
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
zum 6. Sonntag im Jahreskreis, 15. Februar 2004,
(Lk 6,17.20-26)
Es ist keine leichte Kost, die Jesus seinen Jüngern zumutet. Wen Jesus da glücklich, ja selig nennt, das sind sicher nicht die, die im "normalen Leben" als beneidenswert gelten. Und umgekehrt spricht Jesus ein hartes Wehe über die, die normalerweise als die Glücklichen angesehen werden. Er nimmt eine völlige Umwertung der gängigen Werte vor. Wie kommt er dazu, die gängigen Lebensanschauungen so radikal auf den Kopf zu stellen? Und wie gehen wir damit um?
Zuerst eine kurze historische Bemerkung. Die beiden Evangelisten Matthäus und Lukas haben etwas unterschiedliche Fassungen der so genannten "Bergpredigt". Matthäus nennt acht, Lukas nur vier "Seligpreisungen", er fügt dafür die vier "Weherufe" an. Diese Unterschiede bedeuten nicht, dass die Worte Jesu unzuverlässig überliefert wurden. Jesus hat ja oft und an vielen Orten zu den Leuten gesprochen. Er wird dabei im Wesentlichen wohl überall dasselbe gepredigt haben, aber sicher nicht im gleichen Wortlaut.
Um Jesu "Umwertung aller Werte" besser zu verstehen, genügt als erster Schritt, sich in die tatsächliche Lage der ersten Jünger Jesu hineinzuversetzen. Sie waren ja wirklich arm, denn sie hatten alles verlassen, um das arme Leben Jesu zu teilen. Sie hungerten wirklich - und das hatten sie mit vielen armen Menschen damals (wie heute) gemeinsam. Sie werden sicher nicht nur geweint haben, aber Jesus hat sie das Mitgefühl gelehrt, nicht an Not und Trauer vorbeizugehen, sondern mit den Weinenden zu weinen. Und beschimpft und in Verruf gebracht wurden sie auch schon bald, wie ihr Meister selber, an dem manche kein gutes Haar ließen.
Jesus tröstet sie: Ihr werdet satt werden und lachen und großen Lohn im Himmel erhalten. Jetzt leidet ihr, dann werdet ihr Freude genießen. Darauf könnt ihr euch schon jetzt freuen. Der Himmel leuchtet schon in eure jetzige Not herein.
Karl Marx und seine vielen Schüler haben genau dagegen protestiert. Jesus tröstet die Armen und Verfolgten mit einem fernen Himmel, statt jetzt die Verhältnisse zu ändern, damit Not und Unrecht bereits aus dieser Welt verschwinden, nicht erst in irgendeinem Jenseits. Die kommunistische Revolution sollte das Himmelreich auf Erden bringen. Stattdessen hat sie den Gulag, die vielen Millionen Opfer durch Hunger, Lager, Verfolgung und Polizeiterror gebracht. Das war nicht das Paradies.
Heute ist es der weltweit triumphierende Kapitalismus, der den Sieg davon zutragen scheint. Seine Seligpreisungen sind radikal anders als die, die Jesus vor 2000 Jahren verkündigt hat. Selig sind die Erfolgreichen, die Schnellen, selig ist die Spaßgesellschaft, selig sind die, deren Namen in aller Munde ist, die, deren Devise ist: "Oben ist, wo ich bin". Als selig gelten die, die sich selbst verwirklichen und denen "Wellness" gelingt.
Jesus schaut nicht von denen weg, die auf der Schattenseite des Lebens stehen. Heute sind es die Globalisierungsverlierer, die Wegrationalisierten, die mit 48 schon zum alten Eisen gehören, die Scheidungswaisen, die, deren behindertes Leben mehr und mehr als "lebensunwert" gilt. Ihnen allen gilt heute der Zuruf Jesu: "Die Gesellschaft mag euch ausgrenzen. In meinen Augen habt ihr vollen, gültigen Wert."
Wer Jesus nachfolgt, muss seine Werteskala radikal umkehren. Der Erfolg ist gut, aber wichtiger ist der Mensch. Wohlergehen ist erfreulich, aber es ist nicht alles. Manches lehrt uns erst die Not. Vieles kann ich lernen, wenn ich genau auf die Menschen hinschaue, die Jesus selig preist!
In jener Zeit stieg Jesus mit seinen Jüngern den Berg hinab. In der Ebene blieb er mit einer großen Schar seiner Jünger stehen, und viele Menschen aus ganz Judäa und Jerusalem und dem Küstengebiet von Tyrus und Sidon.
Er richtete seine Augen auf seine Jünger und sagte: Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes.
Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet satt werden. Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und aus ihrer Gemeinschaft ausschließen, wenn sie euch beschimpfen und euch in Verruf bringen um des Menschensohnes willen.
Freut euch und jauchzt an jenem Tag; euer Lohn im Himmel wird groß sein. Denn ebenso haben es ihre Väter mit den Propheten gemacht. Aber weh euch, die ihr reich seid; denn ihr habt keinen Trost mehr zu erwarten. Weh euch, die ihr jetzt satt seid; denn ihr werdet hungern. Weh euch, die ihr jetzt lacht; denn ihr werdet klagen und weinen. Weh euch, wenn euch alle Menschen loben; denn ebenso haben es ihre Väter mit den falschen Propheten gemacht.