Wollen nicht auch wir als Menschen, als Kinder Gottes angesehen werden, trotz unserer Fehler?
Wollen nicht auch wir als Menschen, als Kinder Gottes angesehen werden, trotz unserer Fehler?
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
zum 7. Sonntag im Jahreskreis, 22. Februar 2004,
(Lk 6,27-38)
Auf den ersten Blick scheint das unmöglich: auch die andere Backe hinzuhalten! Die Feinde sollen wir lieben? Das ist völlige Überforderung! Gutes denen tun, die uns hassen: Wer soll dazu die Kraft haben? Segnen soll ich die mir fluchen? Ist das alles nicht "widernatürlich"? Wo kommen wir da im Leben hin, wenn wir uns gar nicht zur Wehr setzen? Soll dem Unrecht einfach freier Lauf gelassen werden? Wo kämen wir hin, wenn der Staat sich an die Worte Jesu halten würde? Aber wie sieht ein Land aus, in dem Verbrechen nicht mehr bestraft werden?
Es geht freilich in diesen Worten Jesu nicht um den Staat. Der muss Untaten angemessen bestrafen. Andernfalls öffnet er dem Verbrechen Tür und Tor. Worum geht es dann? Es ist von mir die Rede, von meiner persönlichen Einstellung. Es ist die für mein Leben so entscheidende Frage, ob ich meinen Nächsten wirklich liebe.
Jesus verlangt von uns im Grunde etwas sehr Einfaches, das er in der so genannten "goldenen Regel" positiv zusammengefasst hat: "Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen".
Es genügt also, in jeder Situation mich zu fragen, was ich mir von anderen erwarte und erhoffe, um zu erfassen, was ich tun oder lassen soll! Ich brauche mir nur vorzustellen, wie ich in einer bestimmten Situation gerne behandelt werden möchte, um eine ganz praktische Richtlinie für mein eigenes Verhalten an der Hand zu haben.
Beispiel: Da ist mir im Zorn, in gereizter Stimmung "die Hand ausgerutscht", vielleicht nicht wörtlich, sondern nur im übertragenen Sinn. Ich habe einen Mitarbeiter, einen Nachbarn, wen auch immer, ordentlich "zusammengeputzt". Und nun erlebe ich, dass die betreffende Person nicht mit gleicher Münze zurückzahlt, nicht "zurückhaut". Ich bin überrascht, mein Zorn flaut ab, die Freundlichkeit dessen, den ich "angefahren" habe, entwaffnet mich. Dadurch, dass der andere sozusagen auch die linke Wange hingehalten hat, ist die Spirale der Gewalt durchbrochen. Ich bin dankbar, dass der andere sich nicht zur Vergeltung hat hinreißen lassen. Wie es aussieht, wenn das tödliche Rad von Gewalt und Gegengewalt, von Rache und Rache für die Rache, sich ständig weiterdreht, das sehen wir täglich im leidgeplagten Heiligen Land.
Aber Jesus zeigt uns nicht nur den Verzicht auf den Gegenschlag, er verweist auch auf die Wurzel, aus der die Kraft für diesen Verzicht erwächst. Es ist schlicht und einfach die Liebe.
Aber welche Liebe? Nicht die eigensüchtige, die nur an das denkt, was sie zurückbekommt. Nicht die "interessierte" Liebe, die vor allem auf das schaut, was dabei "herausspringt". Nur die zu mögen, die mich mögen, ist nicht schwer. Nur dort geben, wo ich sicher bin, dass es "sich rechnet" und ich reichlich zurückbekomme, all das ist noch keine wirkliche Liebe.
Das ist vielmehr Berechnung, kaltes Kalkül, aber nicht Großherzigkeit. Um die aber geht es. Und zu ihr gehört auch die Barmherzigkeit, die nicht kleinlich die Fehler der anderen aufrechnet, sondern mit eben dem Maß die anderen misst, mit dem ich selber gemessen werden möchte. Und wer sich nur ein bisschen selber kennt, der weiß, wie sehr jeder von uns einen barmherzigen Maßstab braucht.
Einen solchen legt aber Gott an uns an. Täte er es nicht, wir wären verloren. Selbst die Undankbaren bedenkt Gott mit Güte, obwohl sie es nicht verdient haben. Nur mit diesem Maßstab können wir auch unsere Feinde lieben, nicht das Böse, das sie uns getan haben, aber die Menschen, die sie trotzdem noch sind. Wollen nicht auch wir als Menschen, als Kinder Gottes angesehen werden, trotz unserer Fehler?
Euch, die ihr mir zuhört, sage ich:
Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch misshandeln. Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin, und dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd. Gib jedem, der dich bittet; und wenn dir jemand etwas wegnimmt, verlang es nicht zurück.
Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen. Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden. Und wenn ihr nur denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welchen Dank erwartet ihr dafür? Das tun auch die Sünder. Und wenn ihr nur denen etwas leiht, von denen ihr es zurückzubekommen hofft, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder leihen Sündern in der Hoffnung, alles zurückzubekommen.
Ihr aber sollt eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.
Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist! Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden. Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden. Erlasst einander die Schuld, dann wird auch euch die Schuld erlassen werden. Gebt, dann wird auch euch gegeben werden.
In reichem, vollem, gehäuftem, überfließendem Maß wird man euch beschenken; denn nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird auch euch zugeteilt werden.