Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, weil sie (mir) so viel Liebe gezeigt hat.
Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, weil sie (mir) so viel Liebe gezeigt hat.
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
zum 11. Sonntag im Jahreskreis, 13. Juni 2004
(Lk 7,36-50)
Man muss sich die Szene lebhaft vorstellen. Ein Gastmahl im Orient. Die Gäste (nur die Männer) liegen auf Polstern, dem Tisch zugewandt, die Füße nach hinten, auf die linke Hand gestützt, mit der rechten (ohne Essbesteck) essend. Die Häuser sind offen. Bedienende und Neugierige drängen sich um die Tischgemeinschaft.
Der Gastgeber ist ein bekannter Pharisäer, also ein streng gläubiger Jude. Er hat Jesus persönlich zu seinem Gastmahl geladen, obwohl die Gruppe der gesetzestreuen, frommen Pharisäer manches an Jesus auszusetzen hatte, ja ihn zum Teil so radikal ablehnte, dass einige ihn sogar umzubringen planten. Simon scheint für Jesus doch eine gewisse Sympathie gehabt zu haben, sonst hätte er ihn nicht zu sich ins Haus eingeladen.
Sie liegen also um den Tisch. Das Mahl hat begonnen. Da drängt sich eine Frau herein, die in jener Stadt als Sünderin galt. Was war ihre Sünde? Der Evangelist Lukas sagt es nicht, aber jeder denkt sich sein Teil. Das hat sich bis heute nicht geändert. "So eine Sünderin", damit meint man die Sünden des sechsten Gebotes.
Was die Sünderin jetzt tut, ist für alle Anwesenden schockierend. Selbst in unserer abgebrühten Zeit, für die es keine Tabus mehr gibt, ist ihr Verhalten anstößig. Ich versuche mir immer vorzustellen, wie wir "Kirchenmänner" heute reagieren würden, wenn eine "Sünderin" sich uns so näherte, wie diese Frau es bei Jesus tat.
Sie tritt von hinten an Jesus heran, der barfuss auf dem Diwan beim Essen liegt. Sie hat kostbares Öl mitgebracht - in der Hitze des Orients wichtig und wohltuend für die Haut. Vor allem aber ein Tränenstrom! Sie weint und weint, und ihre Tränen fließen Jesus über die Füße. Und Jesus lässt es geschehen. Er ist von dieser Sünderin nicht angewidert, er stößt die nicht weg, die ihn da berührt; ja er lässt sie gewähren, als sie ihm mit ihren langen Haaren die Füße abtrocknet. Die anderen sind über diese erotisch wirkenden Gesten entsetzt. Vielleicht weiß Jesus gar nicht, was für eine Frau die da ist?
Jesus weiß es, und er weiß auch, was sich Simon und andere in ihrer Phantasie denken, in der so manches verborgenes Erotisches seinen Platz hat, trotz aller Frömmigkeit. Nein, hier geht es einmal nicht um Erotik und Sex, hier geht es nicht um die Wünsche der Männer und die "käufliche Liebe". Hier geht es um die Liebe, die diese Frau bisher vergeblich gesucht hat. Hier ist einer, der sie nicht als Lustobjekt begehrt, sondern der die tiefste Sehnsucht nach Liebe in den Tränen und Gesten dieser Frau erkannt hat und der alleine ihr eine Liebe zurückschenken konnte, die ihr Herz nicht hungrig und leer zurücklässt.
Simon bekommt vielleicht die wichtigste Lehre seines Lebens. Und wir mit ihm, wenn wir zuhören und das Herz öffnen. Simon, ihr alle, die ihr ständig über andere urteilt, begreift es doch endlich: Nur die Liebe zählt im Leben! Die echte, wahre Liebe, die weiß: auch mir ist unendlich viel vergeben worden. Und wenn ich keine Dirne geworden bin, niemanden umgebracht habe, kein Dieb und Räuber geworden bin, dann nicht weil ich so viel besser bin als Dirnen und Mörder, sondern weil Gott mir gnädig war und mich davor bewahrt hat. Liebe ich Ihn dafür entsprechend?
Jesus ging in das Haus eines Pharisäers, der ihn zum Essen eingeladen hatte, und legte sich zu Tisch.
Als nun eine Sünderin, die in der Stadt lebte, erfuhr, dass er im Haus des Pharisäers bei Tisch war, kam sie mit einem Alabastergefäß voll wohlriechendem Öl und trat von hinten an ihn heran. Dabei weinte sie, und ihre Tränen fielen auf seine Füße. Sie trocknete seine Füße mit ihrem Haar, küsste sie und salbte sie mit dem Öl.
Als der Pharisäer, der ihn eingeladen hatte, das sah, dachte er: Wenn er wirklich ein Prophet wäre, müsste er wissen, was das für eine Frau ist, von der er sich berühren lässt; er wüsste, dass sie eine Sünderin ist.
Da wandte sich Jesus an ihn und sagte: Simon, ich möchte dir etwas sagen. Er erwiderte: Sprich, Meister! (Jesus sagte:) Ein Geldverleiher hatte zwei Schuldner; der eine war ihm fünfhundert Denare schuldig, der andere fünfzig. Als sie ihre Schulden nicht bezahlen konnten, erließ er sie beiden. Wer von ihnen wird ihn nun mehr lieben? Simon antwortete: Ich nehme an, der, dem er mehr erlassen hat.
Jesus sagte zu ihm: Du hast Recht. Dann wandte er sich der Frau zu und sagte zu Simon: Siehst du diese Frau? Als ich in dein Haus kam, hast du mir kein Wasser zum Waschen der Füße gegeben; sie aber hat ihre Tränen über meinen Füßen vergossen und sie mit ihrem Haar abgetrocknet. Du hast mir (zur Begrüßung) keinen Kuss gegeben; sie aber hat mir, seit ich hier bin, unaufhörlich die Füße geküsst. Du hast mir nicht das Haar mit Öl gesalbt; sie aber hat mir mit ihrem wohlriechenden Öl die Füße gesalbt.
Deshalb sage ich dir: Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, weil sie (mir) so viel Liebe gezeigt hat. Wem aber nur wenig vergeben wird, der zeigt auch nur wenig Liebe.
Dann sagte er zu ihr: Deine Sünden sind dir vergeben. Da dachten die anderen Gäste: Wer ist das, dass er sogar Sünden vergibt? Er aber sagte zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen. Geh in Frieden!