Dann geh und handle genauso!
Dann geh und handle genauso!
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
zum 15. Sonntag im Jahreskreis, 11. Juli 2004,
(Lk 10,25-37)
Der barmherzige Samariter gehört zu den Gestalten des Evangeliums, die sprichwörtlich geworden sind. In der Hilfsorganisation des "Arbeiter-Samariter-Bundes" kommt dies zum Beispiel zum Ausdruck. Wer ist er, dieser Reisende, der an der Not des Nächsten nicht achtlos vorbeiging?
Es beginnt mit einer typischen theologischen Diskussion, wie sie auch heute gerne geführt wird: diskutieren um des Diskutierens willen, Fangfragen stellen, die den Anderen in Verlegenheit bringen sollen, Themen, die gerade aktuell oder in Mode sind. Damals war es immerhin die Frage, wie man das ewige Leben erlangt. Heute sind es oft viel oberflächlichere Themen, die "man" anspricht, wenn es um Religion und Kirche geht, wie zum Beispiel "die Inquisition", "die katholische Sexualmoral", "die reiche Kirche".
Jesus gibt der Diskussion eine ganz persönliche Wende: Nicht auf das, was "man" gerade sagt, ja nicht einmal auf das, was in der Bibel steht, kommt es an, sondern einzig und allein darauf, ob du danach handelst und lebst. Plötzlich geht er nicht mehr um eine allgemeine, unverbindliche Diskussion, sondern um mich ganz persönlich.
"Wer ist mein Nächster?" Nächstenliebe, untrennbar von der Gottesliebe: Wie sieht sie aus? Die Geschichte, die Jesus erzählt, hat es in sich. Bis heute bleibt sie eine harte Nuss. Der Priester hat es eilig. Er kommt vom Tempeldienst in Jerusalem, will heim. Vielleicht fürchtet er die Räuber, die den halbtot am Wegrand Liegenden so zugerichtet haben. Sie lauern vielleicht auf ein nächstes Opfer. Also nichts wie weiter. Nichts sehen, nichts bemerken, schell weggehen. Der Levit, der nach ihm kommt, ein niedrigerer Rang der Geistlichen, folgt dem traurigen Beispiel des höheren Geistlichen.
Die "hauptberuflich" Frommen kommen in der Erzählung Jesu nicht gut weg. Das bleibt ihnen (uns Geistlichen!) eine stete ernste Mahnung. Der Samariter, der am Verletzten nicht vorbeigeht, ist ein Fremder, ein Ausländer. Die Samariter galten damals in Israel als "Volksfeinde", ihre Religion wurde als halbheidnisch abgelehnt. Ausgerechnet einen solchen Menschen stellt Jesus als Vorbild hin. Er unterbricht seine Reise, schaut nicht - so würden wir heute sagen - auf die Uhr und in den Terminkalender. Da ist ein Mensch in Lebensgefahr. Hilfe tut Not, und ohne zu Zögern leistet er Erste Hilfe, Grundversorgung der Verletzungen, und erst als er ihn in einem Gasthaus versorgt weiß, zieht er weiter.
Vor einigen Jahren durfte ich in einer ökumenischen Feier die neue Einsatzzentale des Arbeiter-Samariterbundes segnen. Man bat mich, auch eine Ikone für das Büro des Kommandanten zu segnen, gemalt von einem russischen Geistlichen. Sie stellte den barmherzigen Samariter dar. Und nun die Überraschung: Er trägt die Züge Jesus Christi. Die Erklärung des Ikonenmalers: Christus selber ist der Samariter, wir sind dieser verwundete Mensch. Jesus übersieht unsere Not nicht. Er hilft und heilt uns, er bringt uns heim in die Herberge seines Vaters. Er erweist sich wirklich als unser Nächster. "Geh, und handle genauso!"
Da stand ein Gesetzeslehrer auf, und um Jesus auf die Probe zu stellen, fragte er ihn: Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?
Jesus sagte zu ihm: Was steht im Gesetz? Was liest du dort?
Er antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst.
Jesus sagte zu ihm: Du hast richtig geantwortet. Handle danach, und du wirst leben.
Der Gesetzeslehrer wollte seine Frage rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster?
Darauf antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halb tot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter. Auch ein Levit kam zu der Stelle; er sah ihn und ging weiter. Dann kam ein Mann aus Samarien, der auf der Reise war. Als er ihn sah, hatte er Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn. Am andern Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.
Was meinst du: Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde? Der Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle genauso!