Kein lebender Mensch ist je anders zur Welt gekommen als „ausgetragen“ von einer Frau, seiner Mutter.
Kein lebender Mensch ist je anders zur Welt gekommen als „ausgetragen“ von einer Frau, seiner Mutter.
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
zum Hochfest der Aufnahme Mariens in den Himmel, 15. August 2004 (Lk 1,39-56)
Im Volksmund heißt das heutige Fest weiterhin einfach „Maria Himmelfahrt“, auch wenn der offizielle kirchliche und liturgisierte Titel „Hochfest der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel“ lautet. Der „Große Frauentag“, wie er auch volkstümlich genannt wird, ist selbst im heutigen Europa noch so populär, dass er in vielen Ländern staatlicher Feiertag bleibt. Es ist mir nicht bekannt, dass Wirtschaft oder Politik diesen Feiertag bisher ernsthaft in Frage gestellt und seine Abschaffung gefordert hätten.
Zweifellos gehört „Maria Himmelfahrt“ zu den beliebtesten Marienfesten. Aber wie steht es um Sinn und Bedeutung des Festinhaltes? Was heißt „leibliche Aufnahme“ in den Himmel? Wie steht es um das biblische Fundament dieses Geschehens? Ist es nicht eigenartig, dass die Bibel darüber nichts berichtet? Das Evangelium des Festtags spricht von einem ganz anderen Ereignis: vom Besuch der jungen, schwangeren Maria bei ihrer Verwandten Elisabet, die trotz ihres Alters ein Kind erwartet, und die im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft ist.
Vom irdischen Lebensende Marias gibt es nur Legenden, keine historischen zuverlässige Berichte. Maria sei entschlafen (der christliche Osten meint bis heute das Fest „Entschlafung Mariens“), das Grab sei dann aber von den Aposteln leer aufgefunden worden. Den gültigen Kern der Legende finden wir aber im heutigen Evangelium. Er hat zutun mit Schwangerschaft und Leben. Zwei Frauen begegnen einander, Maria und Elisabet. Beide tragen ein Kind unter dem Herzen. Als sie einander begrüßen, sich umarmen, bewegten sich die Kinder in ihrem Schoß als wollten auch sie einander begrüßen.
Geheimnis des Lebens! Kein lebender Mensch ist je anders zur Welt gekommen als „ausgetragen“ von einer Frau, seiner Mutter. Trotz aller Kriege, aller Gewalt und Zerstörung, trotz aller Macht des Todes ist dieses Geheimnis ihres Lebens stärker. Das haben die Gläubigen von früh an so empfunden: der Leib, der Jesus das Leben gegeben hat, kann nicht einfach die Beute des Todes werden.
Als Erste hat das vielleicht Elisabet geahnt, als sie ihre junge Verwandte Maria mit dem ungewöhnlichen Gruß empfing: “Gesegnet bist du mehr als alle anderen Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes“. Unzählige Male haben Beter diesen Gruß seither wiederholt, wenn sie das „Gegrüßt seihst du, Maria“ sprechen. Maria selbst hat in ihrem „Danklied“ auf Elisabets Gruß hin gesagt: „Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter“. Und tatsächlich haben alle Generationen seither ihre Liebe und Dankbarkeit Maria gegenüber zum Ausdruck gebracht. Es gibt heute kein Volk auf der Erde, wo sie nicht verehrt würde. Sie ist keine Göttin, sie ist ganz und gar Mensch, aber gesegnet wie kein anderer Mensch. Denn sie ist, wie Elisabet sie grüßt, „ die Mutter meines Herrn“. Sie hat Ihm das irdische, Er hat ihr das himmlische Leben geschenkt, mit Leib und Seele. Weil sie schon jetzt ganz bei Ihm lebt, ist sie stets ganz bei den Menschen.
Nach einigen Tagen machte sich Maria auf den Weg und eilte in eine Stadt im Bergland von Judäa. Sie ging in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabet.
Als Elisabet den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leib. Da wurde Elisabet vom Heiligen Geist erfüllt und rief mit lauter Stimme: Gesegnet bist du mehr als alle anderen Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes.
Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? In dem Augenblick, als ich deinen Gruß hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leib. Selig ist die, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ.
Da sagte Maria: Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. Denn der Mächtige hat Großes an mir getan und sein Name ist heilig.
Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten. Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen. Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen, das er unsern Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig.
Und Maria blieb etwa drei Monate bei ihr; dann kehrte sie nach Hause zurück.