"Ihr seid das Licht der Welt"
"Ihr seid das Licht der Welt"
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
zum 5. Sonntag im Jahreskreis, 6. Februar 2005,
(Mt 5,13-16)
Wer seid "ihr"? An wen richtet Jesus diese beiden unglaublichen Worte: "Ihr seid das Salz der Erde", "Ihr seid das Licht der Welt"? Von wem sagt Jesus solche großen Dinge? Die er da anspricht, denen traut er eine wirklich weltweite Wirkung zu: sie seien Würze für die ganze Erde; sie seien weltweit Leuchtende. Gibt es überhaupt solche Menschen? Oder redet hier Jesus mit orientalischer Übertreibung?
Erinnern wir uns, zu wem Jesus hier spricht. Eine große Menschenmenge hatte sich angesammelt. Sie waren von nahe und fern gekommen, angezogen vom Ruf des Mannes aus Nazareth. Sie hatten von seinen Krankenheilungen gehört, es hatte sich herumgesprochen, dass er viele aus ihren Besessenheiten befreite. Sie alle waren nun da und hörten ihm zu. Dieser von vielen Lasten und Sorgen geplagten Menge, diesen Menschen voller Not und Leid, sagt Jesus sein achtfaches "Selig seid ihr!". Den Amen, den Barmherzigen, den Friedenstiftern, denen, die ein lauteres Herz haben und die nach Gerechtigkeit hungern, sagt Jesus nicht nur zu, dass sie selig sein, sondern auch, dass sie Licht für die Welt, Salz der Erde seien.
Versetzen wir uns einen Moment in die Situation seiner Zuhörer. Wie muss das in ihren Ohren und Herzen geklungen haben! Wie klingt es, wenn dieses Wort mich und dich meint? Ich soll Licht sein? Du Salz, Würze für andere? Versuchen wir es selber: Da ist neben mir jemand Mühseliger, vielleicht Mühsamer, mit Lebenslasten beladen. Gerade zu ihm sagt Jesus: Du bist ein Licht in dieser Welt! Du hältst dich selber für ein armseliges Nichts. In meinen Augen bist du kostbar, wichtig. Mögen dich andere für wertlos und nutzlos betrachten, ich, dein Gott, dein Jesus, sehe dich mit anderen Augen. Du bedeutest mir viel. Ich sehe in dir viel Kostbares, das als vielleicht selber gar nicht wahrnimmst.
Ich glaube, das ist die eigentliche Revolution des Evangeliums. Sie wird immer wieder sichtbar, wo Menschen so leben, wie Jesus es vorgelebt hat. Vor mir liegt das Bild von Damian Deveuster. Dieser belgische Missionar war auf die Insel Molokai bei Hawaii gegangen, die "Hölle wo Molokai", wo die Leprakranken ihrem trostlosen Schicksal überlassen wurden. Er sah in ihren nicht die grässlich Verstümmelten und von allen Gemiedenen. Er sah in diesen Ärmsten "das Licht der Welt". Und weil er ihnen Achtung, Liebe, Anteilnahme schenkte, begannen sie selber zu sehen, dass sie in Gottes Augen kostbar sind.
Wir müssen nicht ins ferne Molokai gehen, um zu erfahren, dass das auch heute möglich ist. Jesus hat die gängigen Wertungen umgekehrt. Was in den Augen von uns Menschen unbedeutend und unwichtig erscheint, sieht er als kostbar und wertvoll an: das Kleine, das Hilflose, die einfache Güte, die selbstlose Liebe, die Friedfertigkeit. Wie sähe unsere Welt aus, wenn wir zu den Armen sagen würden: "Ihr seid das Licht der Welt"? Wenn wir zu einem Behinderten sagen: "Du bist so wertvoll vor Gott und für uns wie das Salz in den Speisen"?
Aber wie oft stellen wir die, die Jesus uns als Licht geschickt hat, "unter den Scheffel", weil wir uns ihrer schämen, weil wir sie vor unseren und der anderen Augen verstecken wollen. Wir wundern uns, dass unser Leben fad und geschmacklos wird und übersehen, wen Gott uns als kostbare "Würze" geschenkt hat.
In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Ihr seid das Salz der Erde.
Wenn das Salz seinen Geschmack verliert, womit kann man es wieder salzig machen? Es taugt zu nichts mehr; es wird weggeworfen und von den Leuten zertreten.
Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf dem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben. Man zündet auch nicht ein Licht an und stülpt ein Gefäß darüber, sondern man stellt es auf den Leuchter; dann leuchtet es allen im Haus.
So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.