Wenn es gelingt, Liebe und Wahrheit so wie Jesus zu verbinden, dann geschieht viel Heilung, auch heute.
Wenn es gelingt, Liebe und Wahrheit so wie Jesus zu verbinden, dann geschieht viel Heilung, auch heute.
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
zum 3. Fastensonntag, 27. Februar 2005,
(Joh 4,5-42)
Am 3., 4. und 5. Fastensonntag werden drei besonders lange Abschnitte aus dem Johannesevangelium gelesen: Die Geschichte von der Frau am Jakobsbrunnen (heute); die Heilung eines blindgeborenen Mannes (nächster Sonntag), die Auferweckung des verstorbenen Freundes Jesu, Lazarus (5. Fastensonntag). Jedes dieser Evangelien beschreibt, wie ein Mensch zum Glauben an Christus kommt. Es sind ganz persönlich, oft traumatische Wege. In der Mitte steht immer ein Erlebnis, das alles ändert: die Begegnung mit Jesus. Die drei großen Geschichten vom finden des Glaubens an Jesus sind auch Heilungsgeschichten: drei Menschen werden aus unglücklicher Einsamkeit, aus Blindheit, ja aus dem Tod gerettet. Jeder von uns kann sich selber oder Nahestehende in diesen Personen wieder finden. Alle drei sind Ostergeschichten, die vom Geschenk eines neuen Lebens erzählen. Sehen wir uns die erste an.
Welche vernünftige Frau geht in der Mittagshitze des Orients zum Brunnen, um Wasser zu holen? Das tun die Frauen frühmorgens oder abends, wenn es noch oder wieder kühl ist. Dort treffen sich die Frauen. Und bis der Krug gefüllt ist, bleibt genug Zeit zum Dorftratsch. Den aber fürchtet die Frau, die einsam zu Mittag zum Brunnen kommt. Über ihr Leben mit vielen Männern gibt es ja genug auszurichten. Und dann die Blicke! Verachtung bei den Frauen, Begierde bei den Männern. Besser möglichst wenig gesehen werden. Da begegnet sie einem Mann. Er sitzt am Brunnen. Ein Jude. Doppelter Grund, sie zu meiden: Männer sprechen Frauen nicht an, Juden nicht Samariter. So wollen es die gesellschaftlichen Vorurteile. Dieser Mann ist anders. Er bittet sie sogar: „Gib mir zu trinken.“ Sie staunt. Und ihr Staunen wächst und wird zur Sehnsucht. So hat noch kein Mann mit ihr geredet. Er spricht von einem „lebendigen Wasser“, das er ihr geben kann. Wie gut wäre das, nicht mehr mühsam Wasser vom Brunnen heimschleppen zu müssen.
Er scheint aber von einem anderen Wasser zu sprechen, das allen Durst stillt. Auch den Durst nach Leben? Auch den unstillbaren Durst nach Liebe? „Gib mir dieses Wasser“, bittet die Frau. „Hole deinen Mann“, antwortet Jesus. „Ich habe keinen Mann!“ Wie viel Trauer und Enttäuschung liegt in diesem Wort! Wie viel unerfüllte Sehnsucht nach Liebe? „Fünf hast du gehabt, und der jetzige ist nicht dein Mann“, sagt ihr Jesus. Hat sie so oft „gewechselt“? Ist sie so oft verlassen worden? Wer hat wen enttäuscht, betrogen, sitzen gelassen? Jesus sagt ihr die Wahrheit über ihr verpfuschtes Leben. Aber er hält keine Moralpredigt. Keine Vorwürfe. Er weckt ihre tiefe Sehnsucht. Wo wird sie endlich Erfüllung finden?
In der Religion? Auch hier fand sie bisher mehr Streit als Leben. Bis heute ist es so wie damals. Viele sind von der Religion enttäuscht, weil sie sich an Äußerlichkeiten stoßen. Damals war es der Streit um den rechten Ort der Gottesverehrung. Jerusalem oder der Berg Garizim der Samariter? Heute sind es Konflikte in der Kirche („konservativ“ gegen „fortschrittlich“) oder zwischen den Kirchen und Religionen.
Jesus weist die Frau auf den gemeinsamen Grund hin, der alle verbinden soll: Gott den Vater, der nicht da oder dort ist, sondern überall. Alle sind seine Kinder, alle sollen ihn mit aufrichtigem Herzen anbeten, "im Geist und in der Wahrheit".
Und nun geschieht das Erstaunliche: Die Frau eilt ins Dorf zurück, mitten unter die Leute, vor denen sie sich aus Scham versteckt hatte. Die Wahrheit hat sie befreit. Denn Jesus hat ihr alles gesagt, was sie getan hat. Aber nicht so, wie die Leute im Dorf, die sie „ausgerichtet“ und verachtet haben. Ihr Versagen, ihre Sünden, ihre vielen unglücklichen Beziehungen haben sie einsam gemacht, obwohl sie mit einem sechsten Mann zusammenlebt. Die Wahrheit über ihr Leben hat sie aus der Isolation befreit. Sie ist wieder in der Gemeinschaft der Menschen. Jesus hat in ihr die Quelle des lebendigen Wassers geöffnet. Sie ist geheilt. Sie weiß sich geliebt und angenommen. Sie muss nicht mehr ihrem Durst nach Liebe nachlaufen, von einer Beziehung zur anderen. Jetzt kann sie selber viele Menschen zu Jesus führen. Sie weiß jetzt und kann glaubwürdig anderen davon erzählen: Viele suchen vergeblich ein erfülltes Leben. Jesus kann es ihnen schenken.
Mich bewegt an dieser Geschichte, wie ein Mensch mit einem offensichtlich unglücklichen Leben - egal ob aus eigenem oder anderem Verschulden - zu einem erfüllten Leben findet. Es konnte nur gelingen, weil die Wahrheit offen ausgesprochen wurde, aber nicht um anzuklagen, sondern um herauszuhelfen. Wenn es gelingt, Liebe und Wahrheit so wie Jesus zu verbinden, dann geschieht viel Heilung, auch heute.
Wir alle können von dieser Frau lernen: Die Felder sind reif zur Ernte. Viele sind auf der Suche. Jesus wartet auf sie am Brunnenrand.
In jener Zeit kam Jesus zu einem Ort in Samarien, der Sychar hieß und nahe bei dem Grundstück lag, das Jakob seinem Sohn Josef vermacht hatte. Dort befand sich der Jakobsbrunnen. Jesus war müde von der Reise und setzte sich daher an den Brunnen; es war um die sechste Stunde.
Da kam eine samaritische Frau, um Wasser zu schöpfen. Jesus sagte zu ihr: Gib mir zu trinken! Seine Jünger waren nämlich in den Ort gegangen, um etwas zum Essen zu kaufen.
Die samaritische Frau sagte zu ihm: Wie kannst du als Jude mich, eine Samariterin, um Wasser bitten? Die Juden verkehren nämlich nicht mit den Samaritern. Jesus antwortete ihr: Wenn du wüsstest, worin die Gabe Gottes besteht und wer es ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, dann hättest du ihn gebeten, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben.
Sie sagte zu ihm: Herr, du hast kein Schöpfgefäß, und der Brunnen ist tief; woher hast du also das lebendige Wasser? Bist du etwa größer als unser Vater Jakob, der uns den Brunnen gegeben und selbst daraus getrunken hat, wie seine Söhne und seine Herden?
Jesus antwortete ihr: Wer von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen; wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zur sprudelnden Quelle werden, deren Wasser ewiges Leben schenkt.
Da sagte die Frau zu ihm: Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich keinen Durst mehr habe und nicht mehr hierher kommen muss, um Wasser zu schöpfen.
Er sagte zu ihr: Geh, ruf deinen Mann, und komm wieder her!
Die Frau antwortete: Ich habe keinen Mann. Jesus sagte zu ihr: Du hast richtig gesagt: Ich habe keinen Mann. Denn fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann. Damit hast du die Wahrheit gesagt.
Die Frau sagte zu ihm: Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist. Unsere Väter haben auf diesem Berg Gott angebetet; ihr aber sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten muss. Jesus sprach zu ihr: Glaube mir, Frau, die Stunde kommt, zu der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet.
Ihr betet an, was ihr nicht kennt, wir beten an, was wir kennen; denn das Heil kommt von den Juden. Aber die Stunde kommt, und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will der Vater angebetet werden.
Gott ist Geist, und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten.
Die Frau sagte zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, das ist: der Gesalbte - Christus. Wenn er kommt, wird er uns alles verkünden.
Da sagte Jesus zu ihr: Ich bin es, ich, der mit dir spricht. Inzwischen waren seine Jünger zurückgekommen. Sie wunderten sich, dass er mit einer Frau sprach, aber keiner sagte: Was willst du? oder: Was redest du mit ihr?
Da ließ die Frau ihren Wasserkrug stehen, eilte in den Ort und sagte zu den Leuten: Kommt her, seht, da ist ein Mann, der mir alles gesagt hat, was ich getan habe: Ist er vielleicht der Messias?
Da liefen sie hinaus aus dem Ort und gingen zu Jesus. Währenddessen drängten ihn seine Jünger: Rabbi, iss!
Er aber sagte zu ihnen: Ich lebe von einer Speise, die ihr nicht kennt. Da sagten die Jünger zueinander: Hat ihm jemand etwas zu essen gebracht?
Jesus sprach zu ihnen: Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat, und sein Werk zu Ende zu führen. Sagt ihr nicht: Noch vier Monate dauert es bis zur Ernte? Ich aber sage euch: Blickt umher und seht, dass die Felder weiß sind, reif zur Ernte.
Schon empfängt der Schnitter seinen Lohn und sammelt Frucht für das ewige Leben, so dass sich der Sämann und der Schnitter gemeinsam freuen. Denn hier hat das Sprichwort recht: Einer sät, und ein anderer erntet.
Ich habe euch gesandt, zu ernten, wofür ihr nicht gearbeitet habt; andere haben gearbeitet, und ihr erntet die Frucht ihrer Arbeit. Viele Samariter aus jenem Ort kamen zum Glauben an Jesus auf das Wort der Frau hin, die bezeugt hatte: Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe.
Als die Samariter zu ihm kamen, baten sie ihn, bei ihnen zu bleiben; und er blieb dort zwei Tage. Und noch viel mehr Leute kamen zum Glauben an ihn aufgrund seiner eigenen Worte.
Und zu der Frau sagten sie: Nicht mehr aufgrund deiner Aussage glauben wir, sondern weil wir ihn selbst gehört haben und nun wissen: Er ist wirklich der Retter der Welt.