Mich rufst du?
Mich rufst du?
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
für den 10. Sonntag im Jahreskreis 5. Juni 2005,
(Mt 9,9-13)
Immer wenn ich das heutige Evangelium von der Berufung des Matthäus lese oder höre, kommt mir ein unvergessliches Bild in den Sinn. Es hängt in Rom, in der Kirche San Luigi dei Francesi, in einer Seitenkapelle, die dem hl. Matthäus geweiht ist. Es wurde 1599 von Michelangelo Caravaggio gemalt.
Ich kenne kein anderes Bild, das so ausdrucksstark das Geschehen der Berufung thematisiert. Caravaggio versetzt die Szene in seine Zeit. Die Männer tragen die damals übliche Kleidung. Nur Jesus und der mit ihm eintretende Petrus sind in antike Gewänder gehüllt. Christus ruft zu jeder Zeit Menschen, ihm nachzufolgen. Keine Epoche ist ihm fremd.
Die Berufung wird vor allem durch das Spiel des Lichtes und die Gesten zum Ausdruck gebracht. Jesus tritt mit Petrus in den Raum, in dem fünf Personen um einen Tisch mit Geld sitzen. Licht fällt auf die Männer. Es strömt herein durch Tür und Fenster und fällt voll auf die Gesichter der Zöllner. Aber nur einer scheint vom Geschehen wirklich betroffen zu sein. Matthäus hebt sein Gesicht und blickt mit weit offenen, staunenden Augen Jesus entgegen. Seine linke Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger deutet auf die eigene Brust.
Gesicht und Hand sind eine einzige große Frage: Mich rufst du? Mich, den verachteten Zöllner und Sünder? Mich siehst du an ohne mich zu verurteilen? Diese fragenden Augen, diese erstaunte Geste des Matthäus ist für mich eine der ergreifendsten künstlerischen Darstellungen der Berufung des Menschen durch Gott. Hier ist zu spüren, dass Gott in das Leben eines Menschen eintritt und es völlig verwandelt.
Der Künstler hat diese verwandelnde Kraft der Begegnung mit Christus auf eine bewundernswerte Art noch unterstrichen: Von Jesus sind nur das Gesicht und die rechte Hand im Halbschatten zu sehen. Die Hand erinnert an ein berühmtes Bild, das alle kennen. In der sixtinischen Kapelle, im Fresko des Michelangelo, das die Erschaffung Adams darstellt. Zwei Hände berühren einander fast: die Gottes und die Adams. Was will Caravaggio mit diesem "Zitat" sagen? Wohl das: Wenn Gott den Menschen ruft, ist das wie eine "neue Schöpfung". Der Gerufene wird ein neuer Mensch. Ein neues Leben beginnt.
Vier "Kollegen" sitzen mit Matthäus am Zoll. Werden sie nicht gerufen? Warum nur der eine? Vergisst Gott die anderen? Der Künstler sagt nüchtern, wie es eben unter uns Menschen zugeht. Zwei sind so mit dem Geld beschäftigt, dass sie gar nicht aufblicken. Sie merken nichts von dem, was sich zwischen ihrem Kollegen Matthäus und Jesus tut. Die zwei anderen, jüngeren Kollegen merken auf, schauen zu Jesus hin. Deshalb fällt auch Licht auf ihre Gesichter. Aber sie bleiben "auf Distanz", der eine eher kritisch, der andere neugierig.
Was wird aus ihnen? Ruft Jesus sie nicht? Warum wählt er gerade den einen aus? Eine Frage bis heute: Warum können die einen glauben, während andere sich schwer tun? Die Antwort ist nicht mehr im Bild, sie steht im Evangelium: Jesus lädt alle zu einem Festmahl ein. Durch den einen, der sein Jünger und Apostel wird, sollen alle etwas von dem Licht und der Freude mitbekommen, die Jesus in die Welt bringt.
In jener Zeit sah Jesus einen Mann namens Matthäus am Zoll sitzen und sagte zu ihm: Folge mir nach!
Da stand Matthäus auf und folgte ihm. Und als Jesus in seinem Haus beim Essen war, kamen viele Zöllner und Sünder und aßen zusammen mit ihm und seinen Jüngern.
Als die Pharisäer das sahen, sagten sie zu seinen Jüngern: Wie kann euer Meister zusammen mit Zöllnern und Sündern essen?
Er hörte es und sagte: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Darum lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. Denn ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.