Das Evangelium kann mir wie ein Spiegel sein, in den ich hineinblicke, um mein Herz zu prüfen.
Das Evangelium kann mir wie ein Spiegel sein, in den ich hineinblicke, um mein Herz zu prüfen.
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
für den 1. Adventsonntag, 27. November 2005,
(Mk 13,24-37)
Schon längst haben Adventmärkte überall ihre „Standln“ aufgebaut. Als wollte der Markt den Advent nicht abwarten. Heute erst beginnt der Advent, aber das „Weihnachtsgeschäft“ drängt immer mehr schon in den Herbst hinein. So kommt es, dass bereits Mitte, ja Anfang November Weihnachtsbeleuchtung und Christkindlmärkte unsere Städte erfüllen.
Darüber zu klagen hilft nicht. Für viele ist das Geschäft mit den Advent- und Weihnachtseinkäufen die wichtigste Einnahme des Jahres. Sie sei ihnen gegönnt. Sie ist für viele Lebensunterhalt. Es liegt an uns, an jedem Einzelnen, wie wir versuchen, den Advent zu leben. Statt über den Stress der Vorweihnachtszeit zu jammern (und ihn dadurch noch größer zu machen), kann ich mir die Frage stellen: Was erwarte ich wirklich? Worauf hoffe ich? Wonach sehne ich mich? Das Evangelium kann mir wie ein Spiegel sein, in den ich hineinblicke, um mein Herz zu prüfen.
Vor 50 Jahren ging in Österreich eine große Hoffnung in Erfüllung: Unser Land wurde wieder frei. Unsere Nachbarländer mussten bis 1989 warten, bis zum Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft. Viele Völker in der Welt sehnen sich heute noch nach Freiheit, nach mehr Gerechtigkeit und Wohlstand. Daher drängen Menschen aus diesen Ländern in unsere Wohlstandsinseln, Europa, Nordamerika, auf der Suche nach Arbeit und einem menschenwürdigen Leben in Freiheit. Ihre Sehnsucht ist verständlich, auch wenn sie uns vor manche Probleme stellt.
Worauf hoffen wir? Auf noch mehr Wohlstand? Das wird es kaum sein können. Dass es uns weiter so gut geht wie jetzt? Möge es so sein, ich fürchte, es wird nicht so bleiben. Ich glaube, die Zeiten werden schwerer. Was sagt uns Jesus im Evangelium dazu? Zweierlei:
Zuerst, dass es Tage großer Not geben wird. Es gab sie immer wieder. Es wird sie auch in Zukunft geben. Tage werden kommen, in denen alles erschüttert wird, Tage schwerer Prüfungen, kosmischer Katastrophen (die letzten Monate waren eine starke Ahnung davon), kriegerische Auseinandersetzungen.
In alledem sollen wir erkennen: „Das Ende steht vor der Tür.“ Jesus fordert uns auf, die Zeichen zu erkennen. Wenn die Bäume austreiben, zieht der Frühling ins Land. Wenn die Tage der Not hereinbrechen, ist das Reich Gottes nahe. Einmal wird es so weit sein, dass Christus wiederkommt, in Herrlichkeit. Dann wird alle Not vergehen. Dann wird es wirklich Advent, Ankunft des Herrn sein.
Ist das nicht fromme Täuschung? Jede Generation hofft neu, es werde endlich alles gut werden - und doch bleibt alles beim Alten. Wie sehr haben wir in Österreich auf die Freiheit gehofft. Und als wir sie endlich 1955 erhielten, ist Österreich doch nicht zum Paradies auf Erden geworden. Auf Erden wird es nie das Paradies geben. Christus hat es nicht für diese
Welt versprochen. Er hat vielmehr gesagt: „In der Welt habt ihr Bedrängnis.“ Ganz glücklich können wir nur „drüben“ werden, im Himmel. Für jetzt sagt uns Jesus deshalb ein Zweites: Seid wachsam! Da wir weder den Tag noch die Stunde wissen, wann für uns „die Welt untergeht“ und wir sie verlassen müssen, gilt es, jeden Moment des Lebens möglichst wach zu sein.
Ein waches Herz, einen wachen Geist bewahren: Das sagt uns Jesus für heute. Heute kann Er mir begegnen in einem Menschen, der mich braucht. Heute kann Er mich ansprechen durch ein Ereignis, das mich herausfordert. Er soll mich nicht schläfrig und verträumt antreffen. Advent - eine Zeit für wache Herzen: Das kann ein froher Advent werden!
In jener Zeit, sprach Jesus zu seinen Jüngern: Seht euch also vor, und bleibt wach! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist.
Es ist wie mit einem Mann, der sein Haus verließ, um auf Reisen zu gehen: Er übertrug alle Verantwortung seinen Dienern, jedem eine bestimmte Aufgabe; dem Türhüter befahl er, wachsam zu sein.
Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, wann der Hausherr kommt, ob am Abend oder um Mitternacht, ob beim Hahnenschrei oder erst am Morgen. Er soll euch, wenn er plötzlich kommt, nicht schlafend antreffen.
Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Seid wachsam!