Die Zeit ist reif.
Die Zeit ist reif.
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
für den 4. Adventsonntag, 18. Dezember 2005,
(Lk 1,26-38)
Künstler haben seit Jahrhunderten immer neu versucht, diesen Augenblick ins Bild zu bringen: Der Engel tritt ein in das Haus, in das Zimmer, in dem Maria ist. Das Bild kann Worte nicht weitergeben. Doch spricht der Engel zu der jungen Frau, die ausdrücklich als Jungfrau bezeichnet wird: "Sei gegrüßt, du Begnadete." Das Bild drückt die Worte durch Gesten aus. Der Engel ist in seiner ganzen Körperhaltung ein Gruß.
"Sie erschrak über die Anrede und überlegte, was dieser Gruß zu bedeuten habe." Beides versuchen die Künstler auszudrücken: ihr Erschrecken und ihr Nachdenken. Ihr Blick, die Haltung ihrer Hände und ihre Körpers versuchen zu bezeichnen, was in ihrem Inneren vorgeht. Wie viele künstlerische Meisterwerke hat die Meditation dieser Szene hervorgebracht! Es ist ja auch der Wendepunkt im großen Drama der Menschheitsgeschichte. Gott wendet den Lauf der Geschichte zum Guten. Es ist seine Initiative: "Im sechsten Monat (der Schwangerschaft der Elisabeth mit Johannes, dem künftigen Täufer) wurde der Engel Gabriel von Gott in eine Stadt in Galiläa namens Nazaret zu einer Jungfrau gesandt." Gott greift ein. Seine souveräne Tat ist es, den Zeitpunkt, den Erdteil, das Land, den Ort, die Person zu wählen. Seine Wahl ist völlig frei. Aber sie ist nicht willkürlich. Seit Jahrhunderten hat Er diesen Augenblick vorbereitet. Die ganze lange Geschichte des Volkes, das Er sich frei erwählt hat, läuft auf diesen Moment zu.
Gott ist wirklich der Herr der Geschichte. Alles fing an, als Er Abraham erwählte - fast 2.000 Jahre zuvor. Aus seiner Nachkommenschaft entstand das jüdische Volk, das Gott in besonderer Weise zu seinem Volk gemacht hat. Auf langen, mühevollen Wegen ist es seinen einzigartigen Weg gegangen, klein und unbedeutend unter all den großen Völkern der Erde, und doch hat Gott es zum Träger der Hoffnung der Welt gemacht. Durch viele Irrwege gedemütigt, durch Prüfungen geläutert, von Propheten belehrt und auf den rechten Weg gebracht, hat dieses Volk, dem Gottes erste Liebe gehört, den Augenblick erreicht, auf den es seit langem vorbereitet wurde.
"Als die Fülle der Zeit kam", so nennt Paulus den Augenblick, den das Evangelium heute betrachtet. Die Zeit ist reif. Die Stunde ist da. Gottes große Tat kann beginnen: Er sendet Seinen Sohn. Dazu hat er Maria in Nazaret aus allen Menschen auserwählt.
Es ist Seine souveräne Wahl. Aber nicht ohne die menschliche Freiheit. Der Engel überfällt Maria nicht. Auch wenn sie erschrickt und gleich ahnt, dass Großes und Schweres auf sie zukommt, ist dennoch Freiraum für ihre Fragen und Bedenken: "Wie soll das geschehen?" Der Bote Gottes gibt ihr Erklärungen und ermutigende Hinweise. Das Ja-Wort, das er für Gott von ihr einzuholen kommt, soll völlig frei sein. Ohne Zwang, in freier Zustimmung, spricht Maria schließlich das entscheidende Wort: "Mir geschehe, wie du es gesagt hast." In diesem Augenblick vollzieht sich das größte Ereignis der Weltgeschichte: Gottes Sohn wird Mensch. Jesus ist sein Name.
Im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott in eine Stadt in Galiläa namens Nazaret zu einer Jungfrau gesandt. Sie war mit einem Mann namens Josef verlobt, der aus dem Haus David stammte. Der Name der Jungfrau war Maria.
Der Engel trat bei ihr ein und sagte: Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir. Sie erschrak über die Anrede und überlegte, was dieser Gruß zu bedeuten habe.
Da sagte der Engel zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria; denn du hast bei Gott Gnade gefunden. Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: dem sollst du den Namen Jesus geben. Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen, und seine Herrschaft wird kein Ende haben.
Maria sagte zu dem Engel: Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne? Der Engel antwortete ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden. Auch Elisabet, deine Verwandte, hat noch in ihrem Alter einen Sohn empfangen; obwohl sie als unfruchtbar galt, ist sie jetzt schon im sechsten Monat. Denn für Gott ist nichts unmöglich.
Da sagte Maria: Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast. Danach verließ sie der Engel.