Das Staunen über die Wunder des Natürlichen soll zum noch größeren Staunen über die Wunder des „Übernatürlichen“ führen.
Das Staunen über die Wunder des Natürlichen soll zum noch größeren Staunen über die Wunder des „Übernatürlichen“ führen.
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
für den 11. Sonntag im Jahreskreis, 18. Juni 2006,
(Mk 4,26-34)
Wie wächst Gottes Reich? Kann man es sehen, messen, berechnen, voraussagen? Wie oft spricht Jesus vom Reich Gottes, von seinem Wachsen! Meist spricht er in Gleichnissen davon. Er verwendet Bilder aus dem damaligen Alltag, Erfahrungen, die allen zugänglich sind. Doch bricht er immer die Selbstverständlichkeit auf. Er zeigt, dass das Alltägliche nicht alltäglich ist. Alles kann zum Anlass werden, zu staunen. Denn nichts ist selbstverständlich für den, der das Staunen nicht verlernt hat.
Was ist normaler als dass Samen ausgesät wird? Da liegt nun der Same im Boden. Und siehe da: er wächst. Bei Tag und bei Nacht, ob der Sämann daran denkt oder nicht, die Saat wächst und wächst. „Automatisch“, heißt es im griechischen Text. „Von selbst“, übersetzt es die deutsche Bibel. Wörtlich „aus eigenem Antrieb“ heraus bringt die Erde Frucht, „zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre“, und Jesus fügt hinzu: „Und der Mann weiß nicht, wie.“
Niemand weiß es. Viel haben die Wissenschaftler erforscht. Unser Wissen ist enorm gewachsen. Wir können heute unvergleichlich mehr wissen als unsere Vorfahren. Was mich dabei immer mehr wundert, ist die seltsame Tatsache, dass unsere Zeitgenossen nicht mehr staunen als unsere Vorfahren. Denn mehr Wissen führt ja nicht zu mehr Einbildung, sondern zu größerem Staunen. So sollte es zumindest sein. Je mehr wir über die Natur, das Leben, sein „Funktionieren“ wissen, desto größer müsste unser Staunen über den werden, der all das in so unfassbar wunderbarer Weise geschaffen, geordnet, gefügt und aufeinander abgestimmt hat. Je mehr wir wissen, desto unwahrscheinlicher wird es, dass das alles das Ergebnis eines bloßen Würfelspiels des Zufalls darstellt.
Doch geht es in den beiden heutigen Gleichnissen vom Samen und dessen Wachstum nicht um Naturkunde. Das Staunen über die Wunder des Natürlichen soll zum noch größeren Staunen über die Wunder des „Übernatürlichen“ führen.
Das Reich Gottes wächst, „du weißt nicht wie“. Wir Menschen tragen dazu bei wie der Sämann, der den Samen aussät. Aber er hat weder den Samen selber gemacht noch produziert er das „automatische“ Wachsen. Das besorgt „die Natur“ und der, der sie erschaffen hat.
So ist es mit dem Reich Gottes. Die Eltern können den Kindern den Samen des Glaubens ins Herz legen. Sie können sein Wachstum fördern, aber sie können den Glauben ihrer Kinder nicht „produzieren“. Gott bleibt der Geber von Gnade und Glauben. Er schenkt das Wachsen und lässt die Frucht seines Wirkens reifen.
Wie sieht es mit dem Wachsen des Reiches Gottes in Österreich, in Europa aus? Haben wir nicht eher ein Nullwachstum oder gar ein „negatives Wachstum“ in Sachen Glauben? Ich fürchte, vieles spricht für einen solchen Niedergang.
Und doch: Gott bleibt der souveräne Herr von Wachstum und Ernte. Ein Beispiel, dass mich sehr bewegt hat. Wadowice, eine kleine polnische Stadt bei Krakau. 1920 wurde dort in der Pfarrkirche ein Kind auf den Namen Karol getauft. Ein Samenkorn, klein wie ein Senfkorn. Am 2. April 2005 starb dieser Karol, Papst Johannes Paul II. Aus einem winzigen Samenkorn der Gnade ist ein riesiger Baum gewachsen. In seinen Ästen konnten viele nisten. Er vor allem hat die Welt vom Kommunismus befreit und vielen Menschen Mut und Hoffnung gegeben. Und das Reich Gottes ist gewachsen.
Er sagte: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mann Samen auf seinen Acker sät; dann schläft er und steht wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst und der Mann weiß nicht, wie.
Die Erde bringt von selbst ihre Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre. Sobald aber die Frucht reif ist, legt er die Sichel an; denn die Zeit der Ernte ist da.
Er sagte: Womit sollen wir das Reich Gottes vergleichen, mit welchem Gleichnis sollen wir es beschreiben?
Es gleicht einem Senfkorn. Dieses ist das kleinste von allen Samenkörnern, die man in die Erde sät. Ist es aber gesät, dann geht es auf und wird größer als alle anderen Gewächse und treibt große Zweige, sodass in seinem Schatten die Vögel des Himmels nisten können.
Durch viele solche Gleichnisse verkündete er ihnen das Wort, so wie sie es aufnehmen konnten.
Er redete nur in Gleichnissen zu ihnen; seinen Jüngern aber erklärte er alles, wenn er mit ihnen allein war.