Er hat die Seinen nicht vergessen.
Er hat die Seinen nicht vergessen.
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
für den 12. Sonntag im Jahreskreis, 25. Juni 2006,
(Mk 4,26-34)
Manchmal geraten auch die Erfahrensten in Panik. Wer kannte sich auf dem See Genezareth besser aus, als die Fischer Petrus und Andreas, Jakobus und Johannes? Der See war ihr Beruf und schon der Beruf ihrer Vorfahren. Sie hatten so manche dieser gefährlichen Stürme auf dem See erlebt, wenn urplötzlich Fallwinde von den Höhen des Golan herab den See in ein brodelndes, aufgewühltes Ungeheuer verwandeln.
Dieser muss besonders schlimm gewesen sein. Diesem gerieten selbst sie, die sonst nichts erschüttern konnte, in echte Todesangst. Wer kann von sich behaupten, nichts könne ihn aus der Ruhe bringen? Kann ich garantieren, dass ich in Extremsituationen einen klaren Kopf bewahre und nicht die Nerven verliere? Im Rückblick ist man dann beschämt, sich eingestehen zu müssen: Hier bin ich in Panik geraten und habe recht hilflos gewirkt - und war es auch.
Jesus "hat die Ruhe weg". Nichts scheint ihn zu beunruhigen. Er schläft ruhig und fest. Sie schreien ihn wach: "Wir gehen zugrunde - und Du schläfst!" Ein Wort von ihm genügt. Er gebietet den Sturm - und Stille triff ein. Und große Furcht befällt alle, Staunen und Schrecken.
Für die Beteiligten war das eine Art "Schlüsselereignis". Vieles von dem, was ihnen später widerfuhr, haben sie dadurch besser zu verstehen gelernt. Und viele Generationen haben seither ihre Erfahrungen mit dem Erlebnis des Seesturms vergleichen können. In jedem Leben gibt es ähnliche Momente. Auch im Leben der Kirche. Manchmal gerät das Schifflein unseres Lebens völlig unerwartet in arge Seenot. Und das Boot der Kirche hat viele Stürme bestanden, obwohl es dem Sinken schon ganz nahe schien.
Das eigentliche "Schlüsselerlebnis" war aber nicht der Sturm auf dem See, sondern die Gegenwart Jesu im Boot.
Jesus scheint sich nicht zu kümmern. Er schläft. Er ist abwesend. Wie oft kommt diese Frage auf: Gott, wo bist Du inmitten der Not? Warum schläfst Du? Kümmert es Dich nicht, dass wir zugrunde gehen? Vor einem Monat hat Papst Benedikt XVI diesen Ruf, diese Frage an Gott in Auschwitz ausgesprochen, wo so unendlich viel Leid, so unfassbar viel Mord und Vernichtung passiert ist: "Warum hast Du geschwiegen? Warum konntest Du dies alles dulden?" Immer wieder bewegt uns diese Frage in Stunden großen Leidens: Warum scheint Gott zu schlafen? Warum lässt er all das zu und greift nicht ein?
Aus dieser notvollen Frage steigt immer neu die Bitte auf, der laute Ruf, den schon ein Psalm des Alten Bundes ausspricht: "Wach auf, warum schläfst Du, Herr? Erwache, verstoße uns nicht für immer! Warum verbirgst Du Dein Gesicht, vergisst unsere Not und Bedrängnis? … Steh auf - hilf uns! In Deiner Huld erlöse uns!! (Ps 44)
Jesus ist aufgestanden. Er ist auferstanden. Er ist nicht weg gewesen. Er hat die Seinen nicht vergessen. Mitten im Sturm war er da. Staunend haben es seine Jünger erlebt, als der Sturm sich gelegt hatte. Das vor allem ist das "Schlüsselerlebnis" dieser stürmischen, notvollen Nacht: Er ist im Boot: "Warum habt Ihr solche Angst? Habt Ihr noch keinen Glauben?"
Am Abend dieses Tages sagte er zu ihnen: Wir wollen ans andere Ufer hinüberfahren. Sie schickten die Leute fort und fuhren mit ihm in dem Boot, in dem er saß, weg; einige andere Boote begleiteten ihn.
Plötzlich erhob sich ein heftiger Wirbelsturm, und die Wellen schlugen in das Boot, sodass es sich mit Wasser zu füllen begann. Er aber lag hinten im Boot auf einem Kissen und schlief.
Sie weckten ihn und riefen: Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen? Da stand er auf, drohte dem Wind und sagte zu dem See: Schweig, sei still! Und der Wind legte sich und es trat völlige Stille ein.
Er sagte zu ihnen: Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben? Da ergriff sie große Furcht und sie sagten zueinander: Was ist das für ein Mensch, dass ihm sogar der Wind und der See gehorchen?