Rabbuni, ich möchte wieder sehen können.
Rabbuni, ich möchte wieder sehen können.
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
für den 30. Sonntag im Jahreskreis, 29. Oktober 2006,
(Mk 10,46-52)
Mir gehen die Augen auf! Das sagen wir auch, ohne blind zu sein. Die Augen funktionieren gut. Ich brauche vielleicht nicht einmal eine Brille, um gut zu sehen. Und doch kann ich blind sein. Ich sehe nicht, dass mich jemand betrügt – bis mir die Augen aufgehen! Ich sehe nicht, dass jemand neben mir dringend meine Hilfe braucht – bis mir die Augen aufgehen! Hoffentlich ist es dann nicht zu spät.
Jesus hat Blinden das Augenlicht geschenkt. Das waren echte Heilungswunder. Sie geschehen auch heute noch. Durch Padre Pio (+ 1968), den heute populärsten italienischen Heiligen, wurde ein Blindgeborener sehend – medizinisch völlig unerklärlich.
Dank der großartigen Fortschritte der Medizin können heute Augenkrankheiten geheilt werden, die früher unweigerlich zur Blindheit führten.
Bartimäus war einer der vielen Blinden, wie sie heute noch in Scharen in den ärmsten Ländern zu finden sind. Er schreit seine Not und seine Hoffnung ungeniert laut heraus. Sein Hilferuf ist für viele ein „Stoßgebet“ geworden: „Jesus, erbarme dich meiner!“
Und Jesus erbarmt sich wirklich. Anders als die Umstehenden, denen dieser arme Schreier lästig ist, den sie zum Schweigen bringen wollen, stört Jesus diese Aufdringlichkeit nicht. Er lässt ihn rufen. Plötzlich sind die, die ihm den Mund verbieten wollten, ganz freundlich zu ihm: „Hab nur Mut, er ruft dich!“ Wie wetterwendig sind wir Menschen! Wie schnell können wir ganz freundlich sein, wo wir kurz zuvor noch unwirsch und heftig waren: ein Lehrbeispiel zur eigenen Gewissenserforschung! Es genügt, dass jemand „Unbedeutender“, Verachteter „aufsteigt“, Ansehen erlangt – und schon sind alle „erzfreundlich“ zu ihm.
„Was willst du, dass ich dir tue?“, fragt ihn Jesus. Eine „No-na“-Frage, wären wir versucht zu sagen. Was will schon ein Blinder? „Ich möchte wieder sehen können!“ Warum fragt ihn Jesus? Damit er es ausspricht. Und damit wir lernen, vor Gott auszusprechen, was wir ersehnen. Aber Gott weiß doch, was meine Not ist! Gewiss. Aber sage es Ihm! Sage es, sprich deine Not vor Ihm aus. Auch deshalb, weil wir oft unsere Not nicht zugeben. Weil wir glauben, keine Hilfe zu brauchen. Weil wir meinen, es schon alleine zu schaffen.
Wir glauben, Sehende zu sein – und sind doch oft so blind. Sehe ich wirklich meine Fehler? Alle um mich herum sehen sie. Und leiden unter ihnen. Nur ich will sie nicht wahrhaben. Jesus hat den blinden Bartimäus geheilt. Er will auch mich sehend machen. Liebevoll, nicht bloßstellend. Er will, dass mir die Augen aufgehen, dass ich sehe, wie viel ich noch an Hilfe und Heilung brauche. Und wie sehr Er mir gut will. Sehend geworden ging Bartimäus mit Jesus auf seinem Weg. Auch ich will nicht blind hintanbleiben!
Sie kamen nach Jericho.
Als er mit seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge Jericho wieder verließ, saß an der Straße ein blinder Bettler, Bartimäus, der Sohn des Timäus.
Sobald er hörte, dass es Jesus von Nazaret war, rief er laut: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir!
Viele wurden ärgerlich und befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!
Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her! Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich. Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu.
Und Jesus fragte ihn: Was soll ich dir tun? Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte wieder sehen können.
Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dir geholfen. Im gleichen Augenblick konnte er wieder sehen, und er folgte Jesus auf seinem Weg