Wir Menschen gehen unsere Wege, jeder für sich, und oft irgendwie, auch seelisch „zerstreut“.
Wir Menschen gehen unsere Wege, jeder für sich, und oft irgendwie, auch seelisch „zerstreut“.
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
für den 31. Sonntag im Jahreskreis, 12. November 2006,
(Mk 12,41-44)
Wir sind fast am Ende des Kirchenjahres. Das heutige Evangelium stellt in gewisser Weise das Ende des öffentlichen Lehrens und Wirkens Jesu dar. Die kleine Szene im Tempel von Jerusalem ist wie ein Schlusspunkt des Evangeliums, seine Zusammenfassung in kürzester Form. Danach spricht Jesus noch ausführlich von den „letzten Dingen“, die Seiner Wiederkunft vorausgehen werden. Darauf folgt seine Leidensgeschichte, die im Abendmahlssaal beginnt und mit dem leeren Grab endet.
Folgen wir nun Jesus in den Tempel in Jerusalem, den er bereits als Kind so sehr geliebt hat, dass er ihn seinen ihn sorgenvoll suchenden Eltern gegenüber als „das Haus meines Vaters“ bezeichnete. Für dieses sein irdisches „Vaterhaus“ hat er leidenschaftlich gekämpft. Die drastische Tempelreinigung bezeugt seine Sorge um die Reinheit und Heiligkeit des Tempels, der nicht zu einer „Markthalle“ oder gar zu einer „Räuberhöhle“ verkommen darf.
Hier im Tempel hat er oft gelehrt, Streitgespräche geführt und wohl vor allem gebetet (auch wenn dies nicht ausdrücklich genannt wird). Hier sehen wir ihn heute einfach sitzend und den Menschen zusehend, wie sie zahlreich in den Tempel kommen. Er hat einen besonderen Platz gewählt: „gegenüber dem Opferkasten“, dem großen „Opferstock“ des Tempels. „Er sah zu, wie die Leute Geld in den Kasten warfen.“
Da trifft sein Blick auf eine „arme Witwe“, die „zwei kleine Kupfermünzen hineinwarf“. Was fällt uns an Jesus auf? Zuerst sein Blick! Jesus sitzt und schaut. Jünger Jesu werden, das heißt zuerst einmal, so zu schauen lernen, wie ER schaut. Seine Sichtweise soll unsere werden. Wenn wir nicht lernen, die Menschen, die Dinge, die Situationen mit seinen Augen zu sehen, dann sind wir noch nicht seine Jünger geworden. Wo sind seine Jünger in dieser Szene? Sie sind doch mit ihm in den Tempel gekommen. Er ist alleine. Sie sind (wieder einmal) anderswo, mit ihren Blicken, ihrer Aufmerksamkeit. Anderes scheint sie mehr zu interessieren. So muss Jesus sie erst zusammenrufen. Das griechische Wort, das der Evangelist Markus hier verwendet, hat dieselbe Wurzel wie das Wort „Kirche“. Sie ist die „Zusammengerufene“, die Versammlung derer, die Gott, die Christus durch seinen Ruf um sich versammelt. Er macht aus Zerstreuten Gesammelte, im doppelten Sinn des Wortes. Wir Menschen gehen unsere Wege, jeder für sich, und oft irgendwie, auch seelisch „zerstreut“. Jesus ruft Menschen zusammen, er sammelt sie, sodass sie selber „Gesammelte“ werden.
Jesus ruft also seine Jünger zusammen. Er muss ihnen etwas zeigen, was sie nicht beachtet haben, etwas ganz Wichtiges, ja Entscheidendes: diese arme Witwe. Was gibt es da zu sehen außer Armseligkeit? Eben das, was nur der Blick Jesu sieht, der nicht am Äußerlichen haften bleibt: Sie hat mehr als alle in den Opferstock gegeben, alles was sie hatte, ihren ganzen Lebensunterhalt, wörtlich „ihr ganzes Leben“. Genau das will Jesus zeigen. Sie, die alles Gott geschenkt hat, stellt Jesus seinen Jüngern vor Augen. In ihrer selbstlosen Hingabe sieht Jesus eine Zusammenfassung seines ganzen Evangeliums. „Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich“ (Mt 5,3 wörtlich). Die arme Witwe tut, was Jesus selber bald tun wird: sein Leben ganz für uns schenken. Wenn die Jünger Jesu sie nicht übersehen, wenn ihr Blick für die Armen und Kleinen wach ist, werden sie auch verstehen, was Jesu innerstes Anliegen ist, worauf es Jesus wirklich ankommt.
Als Jesus einmal dem Opferkasten gegenübersaß, sah er zu, wie die Leute Geld in den Kasten warfen. Viele Reiche kamen und gaben viel.
Da kam auch eine arme Witwe und warf zwei kleine Münzen hinein. Er rief seine Jünger zu sich und sagte: Amen, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Opferkasten hineingeworfen als alle andern.
Denn sie alle haben nur etwas von ihrem Überfluss hergegeben; diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles gegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt.