Der Nächste ist Gottes „Platzhalten“, am dem wir lernen, mit aller Kraft und ganzem Herzen den zu lieben, der hinter dem Nächsten steht.
Der Nächste ist Gottes „Platzhalten“, am dem wir lernen, mit aller Kraft und ganzem Herzen den zu lieben, der hinter dem Nächsten steht.
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
für den 31. Sonntag im Jahreskreis, 5. November 2006,
(Mk 12,28b-34)
Es gibt so viele Gebote. Über 600 zählt das Judentum im Alten Testament. Sind alle gleich wichtig? Sicher nicht. Aber wie sind sie zu gewichten? Welches sind die ganz dringenden, welche haben weniger Bedeutung? Oder müssen alle gleich genau beachtet werden? Welche sind wirklich Gottes Gebote, welche haben die Menschen dazuerfinden? Je mehr vor Menschen gemachte Gesetze zu beachten sind, desto schwieriger wird es, Gottes eigenste Gebote „herauszufiltern“.
Gottes Gebote zu beachten ist aber lebensnotwendig. Seine Gebote sind ja Lebenswege, sie sollen uns vor Todeswegen bewahren. Gott ist ein Freund des Lebens, sagt die alttestamentliche Weisheit. Er will nicht unser Verderben, unseren Tod, sondern dass wir leben. Deshalb ist es so lebenswichtig, Seine Gebote zu kennen und ihnen gemäß zu leben.
Damit wir sie nicht verfehlen, hat Gott sie uns ins Herz geschrieben. Die Grundgebote Gottes, wie sie in den „Zehn Worten“, dem Dekalog festgehalten sind, die Gott dem Mose auf dem Berg Sinai übergeben hat, sind uns nicht von außen auferlegt, als wären sie fremde, willkürliche Weisungen. Wir finden sie in unserem Gewissen, der innersten Stimme Gottes in unserem Herzen. Wir brauchen sie eigentlich nicht zu lernen. Jedes Kind kennt sie durch sittlichen „Instinkt“, der ihm innewohnt.
Wenn sich die hunderten vor Geboten, die in der Bibel zu finden sind, auf die Zehn Gebote zurückführen lassen, dann kann immer noch gefragt werden, welches dann von diesen Zehn das wichtigste sei. Manchmal hat man den Eindruck, das berühmte Sechste Gebot sei das wichtigste, so sehr steht das Thema Sexualität als „Thema Nummer eins“ im Vordergrund.
Jesu Antwort auf die Frage des Schriftgelehrten ist so klar und so „logisch“, dass wir uns nur wundern können, warum das nicht auch im Leben so klar ist. Das erste und wichtigste Gebot ist das erste der Zehn Gebote. Es fasst alle zusammen und gibt überhaupt erst die Möglichkeit, die anderen zu erfüllen.
„Dieu premier servi“ war der Leitspruch der hl. Johanna von Orleans: „Gott an ersten Stelle dienen!“ Aber nicht so, dass wir diesen Dienst in Prozentsätze einteilen: So und so viel für Gott, den Rest für andere und anderes. Jesus ist – mit dem Alten Testament – ganz klar: Es geht um 100 Prozent: Gott lieben „mit ganzem Herzen, ganzer Seele, allen Gedanken, aller Kraft“. Nichts bleibt ausgenommen. Alles soll zur Gänze, bedingungslos, in die Liebe zu Gott „investiert“ werden.
An sich ist das völlig klar. Wenn Gott ist, dann kann es nur so sein. Dann ist Er der Erste und der Letzte, das A und O unseres Lebens. Wenn das so ist, warum ist es dann in unserem Leben oft so wenig wahr. Warum kommt dann Gott in meinem Leben oft an letzter Stelle? Warum wende ich mich an ihn erst wenn alle Stricke reißen? Warum ist er so oft nicht mehr als ein Lückenbüßer im Leben selbst von frommen Christen?
Weil wir (noch) so weit vom Ziel entfernt sind! Weil wir viel zu sehr uns selber zur Mitte machen und diesen Platz nicht Gott geben. Das erste Gebot ist das wichtigste. Es ist das Ziel, das wir erreichen wollen, wenn wir das ganze, volle, Glückliche Leben gewinnen wollen.
Und der Weg dahin? Den nennt Jesus in einem Atemzug mit dem ersten Gebot: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Wir werden Tag für Tag zur größeren Gottesliebe geführt, indem wir geduldig den Weg der Nächstenliebe gehen. Der Nächste ist Gottes „Platzhalten“, am dem wir lernen, mit aller Kraft und ganzem Herzen den zu lieben, der hinter dem Nächsten steht.
Ein Schriftgelehrter ging zu ihm hin und fragte ihn: Welches Gebot ist das erste von allen?
Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft.
Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden. Da sagte der Schriftgelehrte zu ihm: Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast du gesagt: Er allein ist der Herr, und es gibt keinen anderen außer ihm, und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer.
Jesus sah, dass er mit Verständnis geantwortet hatte, und sagte zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und keiner wagte mehr, Jesus eine Frage zu stellen.