Jesus sagt: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Ich bin ja da!
Jesus sagt: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Ich bin ja da!
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag, 13. August 2017 (Mt 14,22-33)
Der Kontrast ist eindrucksvoll. Den ganzen Tag über war Jesus mit einer riesigen Menschenmenge zusammen. Von fünftausend Männern ist die Rede, dazu Frauen und Kinder. Keiner dieser vielen ist hungrig weggegangen. Stundenlang haben sie ihm zugehört. Seine Worte haben die Herzen berührt, Nahrung für die Seele, Hilfe für das Leben, keine hohlen Phrasen oder frommen Sprüche. „Du hast Worte des ewigen Lebens“, hat Petrus zu Jesus gesagt.
Aber Jesus hat nicht nur ihren seelischen Hunger gestillt. Er hat sie auch mit Brot und Fischen gesättigt. Aus den armseligen fünf Broten und zwei Fischen wurde Nahrung im Überfluss, sodass am Schluss zwölf Körbe an Brotresten eingesammelt wurden. Heute hätte man sie wohl weggeworfen. Damals herrschte noch die Ehrfurcht vor jedem Stück Brot!
Und jetzt das Eigenartige, Berührende: Jesus schickt alle Leute weg, zuerst seine eigenen Jünger. Sie sollen schon vorausfahren. Dann die anderen, die große Schar der Menschen, die gekommen waren, um ihn zu hören und zu erleben. Am Schluss ist er ganz alleine da, am Ufer des Sees. Ganz alleine steigt er den Berg hinauf, „um in der Einsamkeit zu beten“. Was für ein eindrucksvoller Kontrast: den ganzen Tag mitten unter zahllosen Menschen. Die ganze Nacht allein im Gebet!
Mir hat eine Deutung des Kontrastes gut gefallen. Sie stammt vom heiligen Johannes Chrysostomus (354–407), der Erzbischof von Konstantinopel (heute Istanbul) war. Er fragt sich, warum Jesus die Leute fortschickte und nicht bei ihnen blieb: „Dadurch lehrt uns Jesus, nie die Anerkennung der Leute zu suchen oder die Menschen an sich zu binden. Er lehrt uns, uns weder ständig unter die Leute zu mischen, noch die Menschen immer zu meiden, sondern beides in nützlicher Weise zu tun. Daher folgt: ,Nachdem er sie weggeschickt hatte, stieg er auf einen Berg, um in der Einsamkeit zu beten.‘ Dadurch zeigt er uns, dass die Einsamkeit gut ist, wenn es Zeit ist, Gott anzurufen. Deswegen geht er auch in die Wüste und verbringt dort die Nacht im Gebet. Dadurch lehrt er uns, im Gebet die Ruhe fern von Ort und Zeit zu suchen.“
Wie wichtig ist manchmal das Alleinsein! Ohne die anderen, vor allem heute einmal ohne Handy, ohne Smartphone (fällt mir ziemlich schwer!). Jesus war freilich in seinen einsamen Stunden nicht alleine. Er zog sich zurück, um zu beten. Das ist wohl etwas vom Geheimnisvollsten in seinem Leben: diese langen Stunden, in denen er ganz allein war mit seinem Gott. Was bewegte ihn dabei? Was hat er gedacht, was gesprochen? Oder hat er ganz geschwiegen, in der Stille auf den gehört, den er seinen Vater nannte?
Die Beschreibung dieser Nacht gibt einen Einblick in das Beten Jesu. Während er allein am Berg ist, kämpfen die Jünger in ihren Ruderboten mit dem Gegenwind. Von dem Ort aus, wo Jesus betet, sieht man den ganzen See. Jesus sah also, wie sie gegen den Wind und die Wellen anruderten. In seiner Einsamkeit am Berg war er ihnen nahe. Im Gebet Jesu ist Platz für alle, die sich abmühen, ob sie es merken oder nicht. Die Jünger meinen wohl, Jesus habe sie vergessen. Sie sehen nur die Mühe des Ruderns. Wenn es eng wird, wenn wir in Bedrängnis sind, in großen, drückenden Sorgen, dann kommt schon der Gedanke, Gott habe uns vergessen und verlassen. Wir fühlen uns in Notsituationen oft sehr von Gott alleingelassen. Jesus ist nicht greifbar, aber für uns da mit seinem Gebet.
Und dann kommt immer wieder der Moment, in dem seine Gegenwart spürbar wird, wie damals, am Morgen, um die vierte Nachtwache, als Jesus über das Wasser zu ihnen kam und der Sturm sich legte. Ich höre Jesus zu mir wie zu Petrus sagen: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Ich bin ja da!
Nachdem Jesus die Menge gespeist hatte, forderte er die Jünger auf, ins Boot zu steigen und an das andere Ufer vorauszufahren. Inzwischen wollte er die Leute nach Hause schicken. Nachdem er sie weggeschickt hatte, stieg er auf einen Berg, um in der Einsamkeit zu beten. Spät am Abend war er immer noch allein auf dem Berg. Das Boot aber war schon viele Stadien vom Land entfernt und wurde von den Wellen hin und her geworfen; denn sie hatten Gegenwind.
In der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen; er ging auf dem See. Als ihn die Jünger über den See kommen sahen, erschraken sie, weil sie meinten, es sei ein Gespenst, und sie schrien vor Angst. Doch Jesus begann mit ihnen zu reden und sagte: Habt Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch nicht! Darauf erwiderte ihm Petrus: Herr, wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir komme. Jesus sagte: Komm! Da stieg Petrus aus dem Boot und ging über das Wasser auf Jesus zu. Als er aber sah, wie heftig der Wind war, bekam er Angst und begann unterzugehen. Er schrie: Herr, rette mich! Jesus streckte sofort die Hand aus, ergriff ihn und sagte zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Und als sie ins Boot gestiegen waren, legte sich der Wind. Die Jünger im Boot aber fielen vor Jesus nieder und sagten: Wahrhaftig, du bist Gottes Sohn.
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