Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zur Lesung am Fest Maria Himmelfahrt, 15. August 2017
Was hat das Fest Maria Himmelfahrt mit der Europafahne zu tun? Im Gottesdienst werden heute Worte aus der Offenbarung des Johannes verlesen. Sie weisen eine Spur zur Antwort auf diese Frage. Der Apostel Johannes hatte als Verbannter auf der Insel Patmos gewaltige Visionen. Sie wurden aufgeschrieben und bilden das letzte Buch der Bibel, genannt „Apokalypse“ oder „Offenbarung des Johannes“. Eine der bekanntesten Visionen ist die von dem „großen Zeichen am Himmel“: Eine Frau, mit der Sonne bekleidet, den Mond unter ihren Füßen, um ihr Haupt ein Kranz von zwölf Sternen.
Wer ist die Frau, die der Seher von Patmos geschaut hat? Spontan kommt vielen Maria in den Sinn. So wurde sie in zahllosen Bildern dargestellt: der Mond zu ihren Füßen, der Sternenkranz um ihr Haupt. Bevor wir fragen, was diese Symbole bedeuten, schauen wir auf die Europafahne. Haben die zwölf Sterne auf blauem Hintergrund etwas zu tun mit der Vision des Apostels Johannes? Haben sie einen Bezug zu Maria?
Darüber wurde viel diskutiert. Wenn nicht alles täuscht, so dürfte es heute sicher sein, dass zwischen beiden ein direkter Zusammenhang besteht. 1950, als der „Europarat“ noch ganz in den Anfängen stand, wurde ein Mitarbeiter, Arsène Heitz, damit beauftragt, eine „Europafahne“ zu entwerfen. Er legte mehrere Entwürfe vor. Angenommen wurde der, den wir heute alle als Europafahne kennen. Arsène Heitz verriet nicht, was ihn zu diesem Vorschlag bewogen hatte. Die zwölf Sterne können ja Vielerlei bedeuten, etwa die 12 Monate des Jahres, die 12 Tierkreiszeichen, die zweimal 12 Stunden des Tages. Als die Europäische Union gerade zwölf Mitgliedsstaaten hatte, übernahm sie 1986 die Fahne, und es blieb bei den zwölf Sternen, als die EU mehr als doppelt so viele Mitglieder hatte.
Jahre später hat Arsène Heitz „verraten“, dass er sich damals, 1950, bei seinem Entwurf, vom bekannten Marienbild hat anregen lassen. Blau ist traditionell die Farbe Mariens. Und die zwölf Sterne gehen auf die Vision des Johannes zurück. Die Europafahne - ein Mariensymbol? Das war wohl kaum der Gedanke der Gründer der europäischen Einigung, obwohl die meisten von ihnen überzeugte Christen waren.
Nun aber zur Schau des Apostels Johannes. Hat sie dem heutigen Europa etwas zu sagen? Die Vision ist höchst dramatisch. Denn sie zeigt auch „ein anders Zeichen“, das am Himmel erscheint: einen „feuerroten Drachen“, erschreckend und gewalttätig. Er will die Frau, die ein Kind geboren hat, vernichten. In dieser äußersten Gefahr greift Gott selber ein. Er nimmt das Kind zu sich und gibt der Frau in der Wüste eine rettende Zuflucht.
Diese Vision spricht von Christus und seiner Mutter Maria. Sie deutet aber auch das Schicksal der Menschen und Völker. Wer an die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert denkt, dem kommen unweigerlich solche apokalyptischen Bilder: zwei menschenmordende Weltkriege, zwei menschenverachtende Ideologien, der Kommunismus und der Nationalsozialismus. Ihnen steht, scheinbar wehrlos und bedroht, die Friedensbotschaft Marias gegenüber. In der Vision der Offenbarung des Johannes siegt schließlich die Frau mit dem Sternenkranz über die Macht des zerstörenden Drachen. Der Weg dahin ist freilich schwer und reich an Leiden. Aber letztlich wird Gottes Hilfe stärker sein. Die Europafahne - ein Ausdruck dieser Hoffnung?
Der Tempel Gottes im Himmel wurde geöffnet, und in seinem Tempel wurde die Lade seines Bundes sichtbar: Dann erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt. Sie war schwanger und schrie vor Schmerz in ihren Geburtswehen. Ein anderes Zeichen erschien am Himmel: ein Drache, groß und feuerrot, mit sieben Köpfen und zehn Hörnern und mit sieben Diademen auf seinen Köpfen. Sein Schwanz fegte ein Drittel der Sterne vom Himmel und warf sie auf die Erde herab. Der Drache stand vor der Frau, die gebären sollte; er wollte ihr Kind verschlingen, sobald es geboren war. Und sie gebar ein Kind, einen Sohn, der über alle Völker mit eisernem Zepter herrschen wird. Und ihr Kind wurde zu Gott und zu seinem Thron entrückt. Die Frau aber floh in die Wüste, wo Gott ihr einen Zufluchtsort geschaffen hatte. Da hörte ich eine laute Stimme im Himmel rufen: Jetzt ist er da, der rettende Sieg, die Macht und die Herrschaft unseres Gottes und die Vollmacht seines Gesalbten.
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